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Zukunft aus der Werkstatt

Das Handwerk gilt oft als Rückzugsort für altbewährte Traditionen, nicht als Innovationslabor. Aber das ist ein Irrtum. Die Zukunft entsteht auch in Werkstätten – ganz besonders in Baden-Württemberg.

Johannes Böhme
Lesedauer: 3,5 Minuten

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Eine der größten Triebfedern der Innovation war schon immer die Monotonie, die Langeweile, die Einförmigkeit der Arbeit. Im Jahr 1895 sollten zwei junge Mechaniker in Stuttgart hunderte Löcher in eine Stahlkonstruktion bohren. Das Bohren von Löchern war seit der Steinzeit eine harte, undankbare Arbeit gewesen. Zwar waren Handbohrwerkzeuge über die Jahrhunderte immer besser geworden. Aber die Hauptarbeit übernahmen auch am Ende des 19. Jahrhunderts immer noch die Muskeln der Handwerker. Hunderte Löcher in Stahl zu treiben, hieß damals: tagelange, schweißtreibende, öde Arbeit. Zwei junge Männer, Friedrich Heep und Jakob Wahl, die im Jahr 1895 für das Stuttgarter Unternehmen Fein arbeiteten, suchten nach einer anderen Lösung und begannen zu basteln. Der Elektromotor war mehrere Jahrzehnte vorher entwickelt worden. Die Motoren wurden damals immer kleiner, immer handlicher. Heep und Wahl montierten ein Bohrfutter – jenes Teil, in das der Bohrkopf dann eingesetzt wird – auf einen Motor. Ihre Maschine drehte sich 1.200- mal in der Minute. Sie war schwer, sehr schwer. Sieben Kilogramm wog sie. Aber sie machte den beiden Handwerkern ihren Alltag viel, viel leichter. Heep und Wahl konnten die Arbeit, für die sie sonst Tage gebraucht hätten, plötzlich in wenigen Stunden erledigen.

 

Emil Fein, der Besitzer der Firma, für die Heep und Wahl arbeiteten, erkannte schnell das Potenzial der Erfindung. Er hatte selber bereits den ersten elektrischen Feuermelder und das erste tragbare Telefon erfunden. Der Firmengründer machte aus dem Einfall ein Produkt, das den Baustellenalltag auf der ganzen Welt revolutionieren sollte. Kurz darauf kam in Stuttgart die weltweit erste elektrische Bohrmaschine auf den Markt. Sie sah komisch aus und hatte noch nicht die Pistolenform, an die wir uns gewöhnt haben. Stattdessen sah sie aus wie ein Wasserhydrant mit Griffen an der Seite, den man sich vor die Brust hielt. Handwerker konnten sich mit Hilfe einer Brustplatte auf die Bohrmaschine lehnen und den Bohrer so mit ihrem Körpergewicht in den Stahl drücken. Die Firma Fein wurde unter anderem durch diese Erfindung zweier junger Handwerker zu einem der größten Hersteller elektrischer Werkzeuge in Deutschland. Sie ist es bis heute geblieben.

RÜCKGRAT DER WIRTSCHAFT
Mehr als eine Million vor allem kleine und mittlere Betriebe bilden mit rund 5,6 Millionen Handwerkerinnen und Handwerkern das Kernstück der deutschen Wirtschaft. Das Handwerk beschäftigt 13 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland – mehr Menschen als alle 30 DAX-Unternehmen zusammen. Mit einem Umsatz von 739,2 Milliarden Euro (2022) setzt das Handwerk mehr um als die global agierenden DAX-Konzerne Mercedes-Benz Group, Volkswagen, BMW und Allianz zusammen. In Baden-Württemberg gibt es rund 141.000 Handwerksbetriebe.

Innovationskraft und Wandelbarkeit

Wenn man an Erfindungen denkt, an Innovationen, an bahnbrechende Neuigkeiten, denken die wenigsten ans Handwerk. Heutzutage ist dieses Bild verbunden mit Forschenden und Technik-Nerds, mit Menschen in weißen Kitteln oder Leuten, die auf Computerbildschirme starren. In der öffentlichen Darstellung werden Handwerkerinnen und Handwerker oft vergessen. Oder sie werden romantisiert, als Berufsgruppe, die in einer Art vormodernem Idyll stehen geblieben ist. In einer Welt, in der die Dinge noch in monatelanger Arbeit Stück für Stück mit der Hand gearbeitet werden – und nicht einfach von einem Fließband fallen. Aber das ist ein Zerrbild. Im Handwerk entstanden einige der bahnbrechendsten Innovationen, Produkte und Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Und erstaunlich viele davon in Baden-Württemberg, wo viele Wirtschaftspioniere als Bastler begannen, die aus ihren Einfällen Weltkonzerne machten. Robert Bosch fing einst mit einer kleinen Werkstatt für Feinmechanik und Elektrotechnik an, in der er jene Zündkerzen entwickelte, die für seinen Weltkonzern die Basis bildeten. Gottlieb Daimler begann seine Karriere mit einer Ausbildung zum Büchsenmacher. Seine epochalen Erfindungen, die den Verbrennungsmotor revolutionieren sollten, entstanden in der Werkstatt, die er sich in seinem Haus in Bad Cannstatt eingerichtet hatte. Aber der König der Bastler war wahrscheinlich Artur Fischer, derjenige, der die Plastikdübel erfunden hat, die heute in Millionen Häusern Regale, Bilder und Lampen an den Wänden halten. Die Idee kam ihm unter der Dusche, hat er später mal erzählt. Mehr als 1.000 Patente hielt Fischer, der in Tumlingen im Schwarzwald zur Welt gekommen war. Fischer war ausgebildeter Schlosser. Selbst als er längst Multimillionär geworden war, bastelte er noch regelmäßig im Blaumann in seiner Werkstatt an neuen Ideen.

Das Handwerk war schon immer innovativer, als die meisten dachten – und wandelbarer. Während der Zeit der industriellen Revolution prognostizierten viele Ökonomen, dass das Handwerk neben der großen, effizienten Massenfabrikation komplett verschwinden würde. Dass es über kurz oder lang keinen Platz mehr für kleine Handwerksbetriebe gebe. Es sah zunächst auch nicht gut aus: In Baden-Württemberg zum Beispiel gingen Ende des 19. Jahrhunderts viele Uhrmacher pleite, die mit den großen Fabriken, die im Schwarzwald entstanden, nicht mithalten konnten. Aber der große Kollaps der Handarbeit blieb dennoch aus. Die Handwerker passten sich an. Sie produzierten nun aufwändige Einzelstücke für Kundinnen und Kunden, die exklusivere Produkte wollten. Oder sie spezialisierten sich auf Reparaturen. Das Gegenteil der Untergangsprophezeiungen trat ein: Die Zahl der Handwerker nahm während der industriellen Revolution zunächst zu, nicht ab. Die Handwerkerdichte verdoppelte sich in Deutschland zwischen 1895 und 1962. Und das Handwerk wurde immer profitabler, immer effizienter. In der Nachkriegszeit, zwischen 1949 und 1962, wuchs der Umsatz der Handwerksbetriebe innerhalb von nur 13 Jahren um unglaubliche 362 Prozent.

Heute arbeiten in Deutschland 5,6 Millionen Menschen im Handwerk. Allein in Baden-Württemberg gab es Ende 2022 mehr als 140.000 Handwerksbetriebe.

HANDWERK MACHT GLÜCKLICH
Etwas mit den eigenen Händen schaffen und zufrieden auf sein Tagwerk schauen: 91 Prozent der Handwerkerinnen und Handwerker sind stolz auf ihre Leistung, bestätigte im Jahr 2020 eine Studie der UniversitätGöttingen. Besonders zufrieden: Befragte mit Abitur. einer aktuellen Umfrage der Innungskrankenkasse IKK erachten zudem rund 92 Prozent aller Handwerkerinnen und Handwerker ihren Beruf als sinnvoll. In der Gesamtbevölkerung tun dies nur knapp 70 Prozent der Befragten. Handwerkerinnen und Handwerker mögen vor allem, dass sie mit der eigenen Tätigkeit anderen Menschen helfen und Wertschätzung dafür erfahren.

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STEIGENDE UMSÄTZE
In den vergangenen zehn Jahren zählte das Handwerk in Baden-Württemberg kein Jahr mit rückläufigen Umsatzzahlen. Wurden im Jahr 2011 rund 85 Milliarden Euro erwirtschaftet, waren es 2021 schon 111 Milliarden Euro. Ein durchschnittliches Plus von 2,7 Prozent pro Jahr. Besonders boomte bis 2021 das Bau- und Ausbaugewerbe, wegen niedriger Zinsen. Derzeit erleben Energieberufe wie Versorgung, Installation, Heizungsbau und Elektrotechnik einen Aufschwung – wegen der hohen Nachfrage nach erneuerbaren Energien und der Digitalisierung.

Aus der Stiftung – Forschung

ARTUR FISCHER ERFINDERPREIS

Ein Preis für privaten Erfindergeist! Alle zwei Jahre wird der von Professor Artur Fischer und der Baden-Württemberg Stiftung gestiftete und mit über 36.000 Euro dotierte Artur Fischer Erfinderpreis Baden-Württemberg verliehen: an private Tüftlerinnen und Tüftler und an Schülerinnen und Schüler, deren Erfindungen besonders innovativ sind.

Mehr Infos unter: www.erfinderpreis-bw.de