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Wer baut die Welt von morgen?

Von der Fliesenlegerin bis zum Friseur: Überall in Baden-Württemberg fehlen Nachwuchskräfte im Handwerk. Die Gründe für den Mangel sind vielfältig, die Lösungen konzentrieren sich vor allem auf das Bildungssystem. Eine Spurensuche.

Benno Stieber
Lesedauer: 3 Minuten

BERUF MIT ZUKUNFT
Ende September 2022 waren in Baden-Württemberg rund 3.800 Ausbildungsstellen in Handwerksberufen nicht besetzt. Die Chancen, eine Stelle zu finden, sind gut. Handwerkerinnen und Handwerker sind zudem im Vergleich zu allen anderen Berufsgruppen weniger von Arbeitslosigkeit betroffen. So kommen auf einen Arbeitslosen mit Zielberuf im Handwerk 1,4 gemeldete Arbeitsstellen, bezogen auf alle Berufe sind es lediglich 0,5. Das soll so bleiben, denn das Handwerk wird nicht zuletzt auch für den ökologischen Umbau der Gesellschaft gebraucht.
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Mit der gemusterten Tapete lief noch alles glatt. Auch die wasserabweisende Glasfasertapete mit dem eleganten Karorelief machte kein Problem, wenn man darauf achtete, sich keine dieser mikroskopisch kleinen Glassplitter einzuziehen. Die jucken sonst noch tagelang. Aber diese Raufaser! Leona, Jan, Leander und Klara sind sich einig, die macht echt Zicken. Die reißt so leicht, nachdem man sie mit Kleister eingepinselt hat. Und mal ehrlich, wer klebt heute überhaupt noch Raufasertapeten? Es ist Freitagnachmittag im Ausbildungszentrum des Malerunternehmens Heinrich Schmid in Reutlingen. Die Neuntklässler wuseln aufgekratzt zwischen den bunt tapezierten Musterwänden herum. Alle tragen weiße Hosen und Sweatshirts mit dem Logo des Unternehmens. Tapetenmesser und Kleisterbürste liegen auf dem Tapeziertisch. Am Ende der Ausbildungswoche lässt die Konzentration schon mal nach. Dabei steht noch einiges auf dem Programm. Die Tapeten müssen wieder von der Wand gespachtelt werden. Alles im Ausbildungszentrum muss am Ende wieder so aufgeräumt sein, wie sie es am Morgen vorgefunden haben, damit demnächst auch wieder die betriebseigenen Lehrlinge hier Tapezieren üben können. Vier Tage mit Kleister und Spachtel haben die Schülerinnen und Schüler schon hinter sich. Insgesamt verbringen sie jedes Jahr bis zum Abitur neun Wochen auf Baustellen und im Ausbildungszentrum des Malerunternehmens. Wenn andere Ferien machen oder ihre Zeit bei Instagram oder an der Playstation verbringen, lernen sie alles über das Grundieren und Lackieren. Für die Schülerinnen und Schüler des Firstwald- Gymnasiums und des Blaulach-Gymnasiums im Landkreis Tübingen ist die Arbeit am Tapeziertisch mehr als nur ein Tapetenwechsel vom grauen Schulalltag oder eines der vielen Schulpraktika. Es ist eine Ausbildung. Wenn sie dabeibleiben, können sie ein halbes Jahr nach ihrem Abitur auch einen Gesellenbrief als Malerin oder Lackierer in den Händen halten. Insgesamt sind es 60 Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg, für die Lackieren erst mal über Studieren geht und die am Ende Ausbildung und Abi in der Tasche haben können. Ist das nicht ganz schön stressig neben der Schule? Nein, findet Leander. In den Ferien hätte er sonst auch nie viel für die Schule getan, jetzt hätte er halt weniger Zeit, um am Computer zu zocken. Jan sagt: „Immerhin lernt man hier was, das man später bei der ersten eigenen Wohnung sofort brauchen kann.“ Und ein kleines Ausbildungsentgelt gibt es ja auch noch. „Dafür müsste ich sonst jobben gehen.“

Carl-Heiner Schmid sitzt im Pausenraum zwischen den Lehrlingen vom Gymnasium und freut sich: „Sind das nicht tolle junge Leute?“ Der 81-jährige Unternehmer ist der Chef des größten deutschen Handwerksund Baubetriebs, Heinrich Schmid in Reutlingen – mit mehr als 6.000 Mitarbeiterinnen  und Mitarbeitern an über 170 Standorten. Den Gesellenbrief mit dem Abitur zu verbinden, war seine Idee. Denn er hat es in seiner Jugend so ähnlich auf einem Internat erlebt. Zwar glaubt Schmid nicht, mit seinem Programm für aufgeweckte Gymnasiastinnen und Gymnasiasten eine finale Lösung für den Fachkräftemangel in Deutschland gefunden zu haben. Aber vielleicht hat am Ende der eine oder die andere Interesse daran, in seinem Unternehmen später eine Führungsposition zu übernehmen.

VERDIENTER LOHN?
Deutschlandweit wurden im Jahr 2022 Auszubildende im Bau und Ausbau am besten bezahlt: Gerüstbauerinnen und Gerüstbauer erhielten im ersten Ausbildungsjahr im Schnitt ein Gehalt von 962 Euro, das sich bis zum dritten Lehrjahr auf 1.467 Euro erhöhte. Am unteren Ende der Gehaltsskala lagen Friseurinnen und Friseure. Sie stiegen bei 543 Euro ein und kamen im dritten Lehrjahr auf durchschnittlich 760 Euro. Nur Orthopädieschuhmacherinnen und -schuhmacher verdienten noch weniger (472 Euro im ersten, 703 Euro im dritten Lehrjahr).

Der Wettbewerb um Fachkräfte

Mit den Anforderungen im Handwerk steigt auch die Nachfrage nach guten Fachkräften. Baustellen werden längst mit Lasern vermessen, Werkzeuge mit Computerprogrammen gesteuert, Kalkulationen digital erstellt. Lehrlinge müssen schon lange mehr als nur „ein Satz Hände“ sein, wie man das auf der Baustelle früher zynisch genannt hat. Von sieben Leuten in seinem Betrieb brauche er einen, der rein mit dem Kopf arbeitet, sagt Schmid, und einen, der rein händisch arbeitet. Die anderen fünf müssten beides können. Aber wo soll diese Idealbesetzung, die sich Schmid da wünscht, künftig herkommen? Denn von den wenigen verbliebenen Hauptschulen, den Werkreal- und Gemeinschaftsschulen kommen zu wenige Lehrlinge in die großen und kleinen Handwerksbetriebe. Im Corona-Jahr 2021 fehlten in Deutschland 65.000 Handwerker, vor allem Gesellinnen und Gesellen. Im Jahr

2022 waren nach Zahlen von HANDWERK BW rund 3.800 Ausbildungsplätze nicht besetzt. Besonders vom Mangel betroffen sind die sogenannten baunahen Berufe wie Maurerin und Fliesenleger. Noch alarmierender ist die Lage, wenn man auf den künftigen Bedarf schaut. Gerade jetzt, wo mit der Babyboomer-Generation bald tausende Handwerkerinnen und Handwerker in Rente gehen, werden sie für die Umsetzung der Energiewende ebenso tausendfach gebraucht.

OFFENE STELLEN
Im Dezember 2022 waren in Baden-Württemberg mindestens 17.000 Stellen in Handwerksberufen offen – in allen Gewerken, schätzt HANDWERK BW, der Handwerkskammertag Baden-Württemberg. Zudem bleiben die Stellen häufig lange unbesetzt. In Ausbauberufen – etwa im Bereich der Zimmerer, Glaserinnen oder Rollladenbauer – dauerte es 244 Tage, bevor im Jahr 2022 eine Stelle wieder besetzt werden konnte. Auf alle Handwerksberufe gerechnet blieben Stellen 194 Tage vakant – ein großes Problem für die Betriebe.

Woher kommt der Handwerkermangel? Sind manche Probleme hausgemacht? Welche Rolle spielen die Schulen? Und wie lässt sich gegensteuern? Lesen Sie das große Feature im Magazin.

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