Essay
Alles im Fluss

Ohne Wasser geht auf der Erde nichts. Aber wehe, das Wasser wird zu wild – dann besteht Gefahr für Leib und Leben, Hab und Gut. Die Geschichte des Wassers handelt daher auch immer vom Versuch des Menschen, das Element zu kontrollieren. Ein Paradebeispiel dafür ist der Rhein: Johann Gottfried Tulla machte aus einem mäandernden Strom den Fluss, den wir heute kennen – einen zuverlässigen Grenzfluss und Wasserweg. Doch die nächste Herausforderung wartet schon.

André Boße
Lesedauer: 3 Minuten

Und plötzlich ist das Dorf weg. Bis eben lag hier Potz, ein linksrheinischer Fischerort, 20 Kilometer nördlich von Karlsruhe. Dann, an einem Tag im Jahr 1522, wird der Rhein wild und spült das Dorf weg. Die Bewohnerinnen und Bewohner retten alles, was noch brauchbar ist, und gründen wenige Kilometer weiter auf höherem Gelände eine neue Ortschaft: Neupotz.

 

Es ist nicht der einzige Vorfall dieser Art. Gut 200 Jahre später stehen die Leute von Knaudenheim ohne ihren Ort da. Das Hochwasser des Jahres 1758 führt dazu, dass der Rhein zum Wildwasser wird. Den Knaudenheimern reicht’s, sie wollen weg. Wegen „fortwährender Wassergefahr“, wie es auf einem Gedenkstein heißt, der in der „Mitte unseres alten Ortes Knaudenheim“ steht – im heutigen Naturschutzgebiet Rußheimer Altrhein-Elisabethenwört, Landkreis Karlsruhe. Landesherr Fürstbischof Christoph von Hutten stattet 1758 dem unter Wasser stehenden Knaudenheim einen letzten Besuch ab; die Herrschenden wissen schon damals, wie groß die Symbolwirkung von Besuchen in überfluteten Gebieten ist. Die Dorfbewohner berichten ihm, sie würden sich gerne auf einem Sandbuckel niederlassen, wenige Kilometer Richtung Osten. Keine gute Gegend, öde und unfruchtbar. Aber höher gelegen – und damit geschützt vor diesem landräuberischen Fluss. Der Landesherr erteilt die Erlaubnis, macht jedoch zur Vorgabe, die Straßen des neuen Ortes geometrisch anzuordnen, wie es Mitte des 18. Jahrhunderts als schick gilt. Benannt wird die neue Siedlung nach dem Landspender: Huttenheim. Nun hat der Fürstbischof ein Dorf, das seinen Namen trägt. Dem Rhein sei Dank.

Eine Postkarte aus dem Jahr 1904 zeigt den Mühlauhafen Mannheim. Copyright: akg-images
Unter der Rheinbrücke bei Karlsruhe-Maxau fließt der Rhein schnurgerade dahin. Der Strom entspringt in den Schweizer Alpen und mündet in den Niederlanden in die Nordsee. Seine Gesamtlänge beträgt rund 1.233 Kilometer, davon befinden sich rund 870 Kilometer in Deutschland. Den größten Rheinanteil hat Baden-Württemberg. Copyright: akg-images/euroluftbild.de/Martin Bildstein
Die Flüsse des 18. Jahrhunderts mäanderten in ihrem Überschwemmungsgebiet oder nahmen ihren Weg durch Hunderte von kleinen Kanälen, die durch Sand- und Kiesbänke sowie Inseln voneinander getrennt waren. Das Gemälde „Blick vom Isteiner Klotz rheinaufwärts gegen Basel“ von Peter Birmann (1758 – 1844) zeigt das eindrücklich. Es entstand im Jahr 1810. Copyright: Kunstmuseum Basel, Birmann-Sammlung 1859

Deutschland einig Sumpfgebiet

Die Berichte über die beiden überfluteten Dörfer zeigen: Ein Fluss wie der Rhein gibt und nimmt. Er gibt einen Wirtschaftsraum, nutzbar für Fischer, Fährleute, Fabriken. Er gibt Grenzen vor, früher zwischen Fürstentümern, heute zwischen Staaten und Bundesländern. Er gibt damit auch Sicherheit vor Feinden. Der Natur gibt er einen Lebensraum – und dem Menschen eine Gegend, in der es sich schön leben lässt. Und nicht zuletzt gibt er die Energie des Wassers sowie eine Wasserstraße, auf der sich selbst schwerste Güter transportieren lassen. So ein Fluss ist ein großes Geschenk! Aber wenn er über die Ufer tritt, dann nimmt er sich in Sekundenschnelle vieles von dem wieder zurück, was er gegeben hat. Das kostet Land, Geld, im schlimmsten Fall Menschenleben. Der Fluss wird damit zum Symbol für die Weltgeschichte des Wassers: ohne Wasser kein Leben, kein Wohlstand. Verliert der Mensch jedoch die Kontrolle über das Wasser, sind Leben und Wohlstand in Gefahr. Weshalb es für den Fortschritt der Zivilisation von entscheidender Bedeutung ist, zu versuchen, die Kontrolle zu behalten. Oder, um es in den Worten des Historikers David Blackbourn zu sagen: die Natur zu erobern.

 

Der britische Geschichtsprofessor ist ein Experte für deutsche Geschichte, in seinem Buch Die Eroberung der Natur erklärt er, warum das moderne, industrielle und föderalistische Deutschland erst dann entstehen konnte, als die Deutschen das viele Wasser in ihrem Land in den Griff bekamen. Was bis Mitte des 18. Jahrhunderts nicht der Fall gewesen sei, wie Blackbourn schreibt: „Ein weit größerer Teil war von Sand, Gestrüpp und vor allem von Wasser bedeckt.“ Auch die typischen deutschen Flüsse – ob Neckar oder Donau, Main oder Rhein – gaben damals noch ein anderes Bild ab: „Im Gegensatz zu den vertrauten Wasserstraßen von heute, deren Wasser aufgrund von Baumaßnahmen schnell in einer einzigen Fahrrinne zwischen Uferdämmen dahinströmt, mäanderten die Flüsse des 18. Jahrhunderts in ihrem Überschwemmungsgebiet oder nahmen ihren Weg durch Hunderte von kleinen Kanälen, die durch Sand- und Kiesbänke und Inseln voneinander getrennt waren.“ Die Flüsse machten, was sie wollten. Oder besser, was die Natur ihnen vorgab. Das Gebiet der heutigen Bundesrepublik war ein reichlich versumpftes Terrain.

 

Unter den ungebändigten Flüssen besaß der Rhein bis ins 18. Jahrhundert hinein einen besonders wankelmütigen und wilden Charakter. Im südlichen Teil der Oberrheinebene, gelegen im heutigen Baden-Württemberg, durchgrub der Fluss bei Hochwasser die Landschaft. Lief das Wasser ab, blieb ein Sumpf zurück: kaum zu bewirtschaften, ein Hort für Krankheitserreger, als Lebensraum für Menschen ungeeignet. „Im Lauf der Jahrhunderte und im Wechsel der Jahreszeiten schuf dieser Zyklus ein Labyrinth von Wasserarmen und Inseln“, beschreibt David Blackbourn, und auch der Rheinverlauf glich damals einer „ausgedehnten, verwirrenden Wasserlandschaft“. Eine, die so manchen zu Abenteuern motivierte: Goethe fischte nach dem Rheinlachs und im Großherzogtum Baden fanden Goldschürfer ihr Glück. Das Rheingold ist nicht bloß ein Mythos.

Vor etwa 200 Jahren begann mit Plänen wie diesem – die Karte zeigt den Rhein bei Knielingen – die Begradigung des Flusses. Das Generallandesarchiv Karlsruhe sammelt historische Dokumente wie dieses. Und macht damit Geschichte lebendig. Copyright: Generallandesarchiv Karlsruhe H Rheinstrom 97
Zu wenig Wasser bedroht die Schifffahrt, zu viel davon die Menschen, die entlang der Ufer leben. Nach einem Dammbruch am Rhein bei Steinmauern im Jahr 1955 räumen Männer die Hochwasserschäden beiseite. Copyright: Landesmedienzentrum Baden-Württemberg/Rudolf Moser
Der Rhein ist aber nicht nur eine wichtige Wasserstraße, sondern auch
ein Erholungsgebiet. Die Aufnahme zeigt Badegäste am Strandbad Rappenwörth in Karlsruhe. Copyright: akg-images

Tullas Rhein-Vision

An den Höfen entlang des Stroms machen sich Herzöge und Fürsten im 18. Jahrhundert Gedanken, wie man den räuberischen Rhein in seine Schranken verweisen könnte. Bislang hatten es die Anrainer mit lokaler Schadensbegrenzung versucht, mal hier ein neuer Deich, mal dort ein künstlich angelegter Graben. Manchmal hilft es, häufig genug aber ist die Macht des Wassers einfach zu gewaltig.

 

Was es braucht, sagen die Mächtigen, ist eine große Maßnahme! Gesucht wird jemand, der den Rhein zu zähmen weiß. Auftritt Johann Gottfried Tulla, geboren 1770 in Karlsruhe. Als Ingenieur, der gedanklich und technisch seiner Zeit voraus ist, nimmt er die Herausforderung an, den Rhein zu begradigen. Ihn also in ein neues, fixes, weniger verschlungenes Bett zu verlegen. Als „Bändiger des wilden Rheins“ bezeichnet die Geschichtsschreibung Tulla. Ist dieser Ruf berechtigt? Ein Anruf bei Nicole Zerrath, Historikerin und Co-Autorin einer Tulla-Biografie. Im Riedmuseum in ihrer Heimatstadt Rastatt, am Rhein gelegen, gibt Zerrath Führungen zum Leben und Wirken Tullas. Der Höhepunkt jeder Tour: die Flutung eines Rheinmodells. Damit zeigt die Historikerin, welche Auswirkungen ein Hochwasser vor und nach Tulla hatte. Vereinfacht zusammengefasst: davor Chaos, danach Kontrolle. Tulla, der Rheinbändiger – betrachtet man das Modell, ist das nicht übertrieben. Wobei es zur Wahrheit dazugehört, dass die Hochwasser nicht verschwinden, sondern sich rheinabwärts verlagern – so lange, bis auch dort Maßnahmen ergriffen werden. Ein Umstand, der Tulla zum Beispiel im damals zu Preußen gehörenden Köln Ärger einbringt.

 

Was war dieser Ingenieur aus Karlsruhe für ein Typ? Nicole Zerrath hat sich im Generallandesarchiv Karlsruhe durch unzählige Akten und Briefwechsel gearbeitet, „eine ausgezeichnete Quellenlage“, sagt die Historikerin. Ihr Eindruck: „Tulla hat schon alle seine Interessen auf dieses eine Projekt gelegt.“ Als sich sein gesundheitlicher Zustand dramatisch verschlechterte, soll er, am Ende seines Lebens, voller Wehmut gesagt haben: „Heute Nacht habe ich das Gefühl, ich muss dem Rhein für immer meinen Rücken zukehren.“

 

Tulla und der Rhein – das ist eine echte Hassliebe. Schon als Kind bekommt er mit, wie das ungebremste Hochwasser immer wieder Dörfer westlich von Karlsruhe wegspült. Im Gymnasium zeigt er eine ungewöhnliche Begabung für Mathematik, besonders gut ist Tulla darin, Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Seine Lehrer berichten dem Markgrafen von Tullas Talent. „Dass man bei Hofe gut über ihn sprach, hat Tulla einen Kick gegeben“, sagt Nicole Zerrath. „Er wollte seine Begabung dafür nutzen, mit den Möglichkeiten der jungen Wissenschaft den Menschen am Rhein zu helfen.“ Tulla entwickelt die Vision des begradigten Rheins: keine Dörfer mehr, die einfach verschwinden, keine verschlammten Gebiete, in denen sich nach Abfluss des Hochwassers tödliche Krankheiten wie Sumpffieber oder Malaria verbreiten. Der junge Ingenieur betrachtet sein Vorhaben als zivilisatorisches Projekt.

 

Dass seine Idee, dem Rhein ein festes Bett zu geben, prinzipiell funktioniert, hatte Tulla bereits bei Begradigungen von kleineren Flüssen wie der Dreisam gezeigt. Und der Ingenieur profitiert vom politischen Zeitgeist: In der Epoche der Aufklärung sind die Herrschenden der Wissenschaft gegenüber positiv eingestellt. Zudem ist sein Auftraggeber, das Großherzogtum Baden, gerade erst zum souveränen Staat aufgestiegen, unterstützt von Napoléon Bonaparte, der ein starkes und den Franzosen zugewandtes Baden als nützlichen Pufferstaat gegen die Preußen betrachtet. Frankreich und Baden vereinbaren, eine neue Grenzlinie festzulegen, „diese wurde als Talweg des Rheins beschrieben“, erklärt Nicole Zerrath – eine Festlegung, die zeigt, wie bedeutsam Wasserwege für die Geopolitik sind. Eine Grenze darf jedoch nicht mäandern – weshalb Tullas Idee, dem Rhein ein fixes Bett zu geben, eine politische Dimension erhält. Ein Umstand, der es dem Ingenieur einfacher macht, Geld und Männer für das Projekt zu erhalten. Und von beidem braucht er reichlich, als er im Jahr 1812 mit der Umsetzung beginnt, nachdem er dem Großherzog seine Idee vorgestellt hatte.

Der Rheinbändiger: Johann Gottfried Tulla. Copyright: akg-images

Ist dieser Ruf berechtigt? Und welche Auswirkungen zeitigt dieses Megaprojekt noch heute? Lesen Sie den großen Essay im Magazin.

Aus der Stiftung – Forschung

ARTUR FISCHER ERFINDERPREIS

Alle zwei Jahre wird der von Professor Artur Fischer und der Baden-

Württemberg Stiftung gestiftete und mit über 36.000 Euro dotierte Artur Fischer Erfinderpreis Baden-Württemberg verliehen: an private Tüftlerinnen und Tüftler und an Schülerinnen und Schüler. 2021 gewann u. a. Bertold Schillinger aus Renchen-Ulm mit seinem selbsttätigen Hochwasserschutz, der bei Starkregen automatisch hochfährt und dadurch die Überschwemmung seiner Garage verhindert.

Mehr Infos unter: www.erfinderpreis-bw.de