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Fünf US-amerikanische Cent: So viel kostete eine Flasche Coca- Cola viele Jahrzehnte lang. Bis der Getränkehersteller doch die Preise anheben musste. Aber wieso bleiben Preise nicht einfach gleich? Wieso stiegen sie in Deutschland im September 2022 im Vergleich zum Vorjahr sogar um zehn Prozent? Wie also entsteht Inflation? Die wichtigsten Fakten, in kleinen Dosen erklärt.

Johannes Böhme
Lesedauer: 8 Minuten

Wenn man die Macht der Inflation verstehen will, fängt man am besten mit dem Erfrischungsgetränk Coca-Cola an – dem Produkt, das der Inflation am längsten Widerstand leistete. Das erste Glas Coke, das in Atlanta, Georgia, im Jahr 1886 in einer Apotheke angeboten wurde, kostete fünf Cent oder wie die Amerikaner sagen: einen Nickel. Fünf Cent waren im Jahr 1886 in etwa so viel wert wie heute 1,60 US-Dollar. Als im Jahr 1899 die ersten Cola-Flaschen im 190-ml-Glas abgefüllt wurden, kosteten sie fünf Cent. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, kosteten die gleichen Flaschen immer noch fünf Cent. Und als Fidel Castro 1959 an die Macht kam, kostete die kleine Flasche Coca-Cola an einigen Orten in den USA immer noch einen Nickel.

In der Zwischenzeit hatte sich der Wert eines Nickels aber dramatisch verändert. Fünf Cent aus dem Jahr 1959 besaßen nur noch einen Bruchteil der Kaufkraft, den sie im Jahr 1886 gehabt hatten. Der Nickel hatte über die Jahrzehnte langsam zwei Drittel seines Wertes verloren. Diesen Prozess nennt man Inflation: die oft langsame, schleichende Entwertung des Geldes. Nur der Preis einer Cola blieb Jahr für Jahr gleich. Unter anderem, weil das Unternehmen überall in den USA Getränkeautomaten aufgestellt hatte, die nur Fünf-Cent-Münzen annahmen. All die Maschinen umzustellen, schien lange zu aufwendig. Aber nach mehr als sieben Jahrzehnten wurde es auch der Coca-Cola Company zu viel: Um das Jahr 1960 herum begann die Firma, den Preis anzuheben. Seither ist er gestiegen und gestiegen. Eine kleine Glasflasche Coca-Cola kostet heute in den USA im Schnitt etwa 1,60 Dollar – oder mehr als das 32-Fache des Preises aus den 1950ern.

Die Menge an Waren und Geld 

Inflation ist eine Preissteigerung, die nicht nur einzelne Produkte betrifft, sondern irgendwann nahezu alle Preise erfasst. Es ist ein Prozess, der größer ist als jede Firma, jedes Produkt, jede Branche. Meistens gibt es nicht die eine Ursache für Inflation, sondern mehrere. Preise werden durch zwei Dinge bestimmt: wie viel Geld es gibt und wie viele Waren man mit diesem Geld kaufen kann. Die Preise steigen, wenn die Menge an Geld zunimmt oder die Menge an Waren abnimmt. Oder anders gesagt: wenn zu viel Nachfrage da ist für zu wenige Güter.

Um beim Beispiel zu bleiben: Wieso hat Coca-Cola vor einigen Wochen eine deutliche Preiserhöhung für dieses Jahr angekündigt? Da wäre zum einen der Preis für Rohstoffe, insbesondere für Zucker. Der hat sich seit dem Frühjahr 2020 verdoppelt, unter anderem, weil nach einem Kälteeinbruch in Brasilien, dem größten Zuckerproduzenten weltweit, die Ernte im Jahr 2021 deutlich geringer ausfiel als gewohnt. Es war plötzlich sehr viel weniger Zucker da als vorher. Die Preise stiegen. 

Hinzu kam, dass Coca-Cola einen Teil der Glasflaschen für seine Produktion in Europa lange aus der Ukraine bezog. Ein russischer Angriff zerstörte die Glasflaschenfabrik des Coca-Cola-Hauptlieferanten. Die Flaschen wurden knapp – und die Lieferungen wegen verminter Seewege und hoher Spritkosten teurer. Dinge, die vorher reichlich zur Verfügung gestanden hatten, gab es nun also in kleinerer Zahl. Das ist einer der wesentlichen Gründe für das Anheizen der Inflation.

Der andere ist das Geld. Genauer: die Geldmenge. Während der Corona-Pandemie hatten Regierungen überall auf der Welt großzügige Hilfsprogramme gestartet, um zu verhindern, dass die Wirtschaft kollabiert. Es wurde Geld direkt an Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger ausgezahlt. Die Geldmenge stieg deutlich stärker als vorher. Im Euro-Raum kamen seit dem Jahr 2019 fast 20 Prozent mehr Geld in Umlauf. Die Menschen gaben es aus. Für Möbel, Laptops, Fernseher, Spielzeuge oder auch: Coca-Cola. Gleichzeitig hatte die Pandemie Lieferketten gestört. Weniger Güter kamen in Europa an, die von mehr Geld gejagt wurden. Das Ergebnis war das, was wir heute erleben: Man kann mit dem Geld, das man hat, plötzlich deutlich weniger kaufen als noch vor zwölf Monaten.

Der Staat und die Zentralbank

Häufig ist Inflation ein Zusammenspiel beider Faktoren – mehr Geld und weniger Waren: Umweltkatastrophen, Pandemien, Kriege und Ölschocks verknappen Güter, unterbrechen Lieferketten und führen zu Ernteausfällen sowie geschlossenen Fabriken. Und Regierungen bringen gleichzeitig viel Geld in Umlauf, um einer Not leidenden Bevölkerung zu helfen. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die Hyperinflation in Deutschland im Jahr 1923, kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Die Preise explodierten damals regelrecht. Ein Liter Milch kostete im Juni 1923 noch 144 Mark. Sechs Monate später war der Preis für den Liter auf unglaubliche 360 Milliarden Mark gestiegen.

Es gibt oft die Vorstellung, dass dies allein daran lag, dass zu viel Geld gedruckt wurde. Aber das ist nur ein Teil der Erklärung. Die Inflation wurde auch dadurch ausgelöst, dass die Regierungen des späten Kaiserreich und der Weimarer Republik wie verrückt Geld gedruckt hatten, um die horrenden Kriegskosten zu bezahlen. Die Ausweitung der Geldmenge war lediglich ein Teil des Problems. Der Ursprung der Hyperinflation lag auch in der Kriegswirtschaft: Weil die Industrie jahrelang vor allem Waffen produzieren sollte, gab es zwar sehr viel Geld im Umlauf, aber deutlich weniger Alltagswaren zu kaufen.

Mit der Inflation ist es wie mit dem Alkohol: Ein Glas Rotwein am Abend tut gut, zwei Flaschen Wein eher nicht. Ein leichter Wertverlust des Geldes ist ganz normal und sogar gewünscht. Die Europäische Zentralbank zum Beispiel hat genau wie ihr US-Pendant, die Federal Reserve, das Ziel, die Inflationsrate bei zwei Prozent im Jahr zu halten.

Zentralbanken versuchen also, die Geldmenge immer etwas schneller wachsen zu lassen, als den Bestand an Gütern und Dienstleistungen, die man mit dem Geld kaufen kann. Sie wollen damit verhindern, dass das Wirtschaftswachstum ausgebremst wird, weil nicht genug Geld da ist, um die Waren und Dienstleistungen zu kaufen, die neu hinzugekommen sind.

Das Hauptinstrument dabei ist der Leitzins. Mit diesem legt die Zentralbank den Preis fest, zu dem Geschäftsbanken sich Geld beim Staat leihen können. Je geringer der Leitzins, desto billiger wird es auch für die Bankkundinnen und -kunden, sich Geld zu leihen – und desto mehr Geld kommt in Umlauf. Mit einem niedrigen Leitzins versucht der Staat also, die Geldmenge zu erhöhen. Mit einem hohen Zins möchte er dagegen das Geldwachstum ausbremsen. Die Europäische Zentralbank hat gerade das erste Mal seit Juli 2008 den Leitzins erhöht, und das gleich zweimal innerhalb weniger Monate.

Zinserhöhungen wirken aber nicht immer. Das Schwierige an der Inflation ist, dass sie ein menschengemachtes Phänomen ist. Es gibt kein Naturgesetz, das bestimmt, wie sie steigt und fällt. Sie hat eine psychologische Komponente. Menschen reagieren sehr unterschiedlich aufsteigende Preise. Das kann Inflation abschwächen oder verstärken. Auch Zentralbanken können das nie ganz kontrollieren.

Konsumverhalten

Eigentlich sind steigende Preise ein Signal, weniger zu kaufen – also: zu sparen. Die Menschen verschieben größere Anschaffungen und trinken eine Weile weniger Cola. Wenn Millionen Menschen so auf die Preisanstiege reagieren, sinkt die Nachfrage. Das führt dazu, dass knappe Güter bald deutlich öfter verfügbar sind. Die Firma verkauft weniger, hat darum aber auch bald wieder mehr als genug Glasflaschen und Zucker. Die Lieferengpässe hören auf. Das stabilisiert die Preise. Die Inflationsrate wird eingedämmt. Nur: So reagieren längst nicht alle Gesellschaften auf eine hohe Inflation.

Wenn die Mehrheit der Menschen davon überzeugt ist, dass die hohe Inflation ein dauerhaftes Problem sein wird, passiert nämlich mitunter etwas anderes: Dann fangen Menschen an, das Geld, das sie verdienen, so schnell wie möglich auszugeben, bevor es an Wert verliert. Sie heizen so aber die Inflation nur weiter an. Dann sind die Regale schnell leer, die Lieferengpässe verschärfen sich – und die Preise steigen noch schneller. Ein Extrembeispiel: die Frauen in der Weimarer Republik, die morgens das Gehalt ihrer Männer am Fabriktor abholten, um es sofort auszugeben. Abends waren die Preise meistens schon weiter gestiegen.

Derzeit sieht es allerdings eher danach aus, als ob die Menschen in Deutschland sparen, weniger konsumieren, auf unnötige Anschaffungen verzichten. Mit anderen Worten: Sie dämpfen den Anstieg der Inflation dadurch ab, dass sie Verzicht üben. Manche haben auch gar keine andere Wahl.

Gewinner und Verlierer

Steigende Preise treffen nicht alle Menschen gleich. Um das zu verstehen, muss man sich nur ansehen, wie Inflation gemessen wird. Die Inflationsrate ist ein Durchschnittswert. Im Juli 2022 waren die Preise im Vergleich zum Juli 2021 durchschnittlich um 7,5 Prozent gestiegen. Praktisch läuft das so ab: Das Statistische Bundesamt erfasst jeden Monat Tausende Preise von 650 Waren für alles Mögliche: von Bestattungen und Zahnarztbesuchen über Pflanzenöl und Softdrinks wie unsere Cola bis hin zu Brot. Die Preise werden dann in einem Warenkorb zusammengerechnet und gewichtet. Dabei geht man davon aus, dass gewisse Dinge für die durchschnittliche Deutsche bzw. den durchschnittlichen Deutschen wichtiger sind als andere. Der Preis für Bestattungen zum Beispiel ist für die meisten Deutschen weniger wichtig als der für Brot. Brot wird deshalb im Warenkorb dreimal so stark gewichtet wie Bestattungen.

Das Problem: Viele Menschen leben ganz anders als der Durchschnittsbürger, den die Statistikerinnen und Statistiker sich ausmalen. Einige pendeln jeden Tag 200 Kilometer mit dem Auto und verbrauchen sehr viel Benzin. Andere leben vegan und fahren überall mit dem Fahrrad hin – weshalb ihnen Sprit- und Fleischpreise komplett egal sein können. Die Preissteigerungen der vergangenen Monate betrafen vor allem Strom, Gas und Treibstoffe, aber auch einige überraschende Dinge: Schulhefte und Zeichenblöcke sind zum Beispiel innerhalb eines Jahres um 13,6 Prozent teurer geworden, was verschiedene Gründe hat, aber unter anderem daran liegt, dass die Herstellung von Papier sehr energieintensiv ist. Lebensmittel sind ebenfalls deutlich teurer geworden – um volle 14 Prozent. Auch weil Russland und die Ukraine bedeutende Exporteure von Getreide und Futtermittel sind. Aber auch hier gibt es große Unterschiede: Der Preis für Geflügel stieg innerhalb eines Jahres um 32,3 Prozent, der von Mehl um 34 Prozent und der von Butter sogar um 47,9 Prozent. Der Anstieg der Preise für Getränke war dagegen fast moderat: 6,3 Prozent zwischen Juli 2021 und Juli 2022.

Im vergangenen Jahr gab es auch Dinge, die billiger wurden: Fernseher (minus ein Prozent), Handyverträge (minus drei Prozent) und Plätze im Altersheim (minus vier Prozent). Vegan lebende Fahrradfahrer haben von der Inflation also weniger mitbekommen als Familien mit zwei Autos, drei Kindern und einer Vorliebe für Brathähnchen. 

Hingegen profitieren diejenigen von der Inflation, die hohe Schulden haben – insbesondere der Staat und eine ganze Reihe großer Unternehmen, die ihr Geschäft mit Krediten finanzierten. Denn wenn Geld allgemein an Wert verliert, verringern sich dadurch automatisch auch die Schulden. Das passierte auch in Zeiten der Hyperinflation von 1923. Alle, die auf Pump Sachwerte gekauft hatten – Firmen, Häuser, Ackerland –, profitierten, während große Teile der Mittelschicht ihre Ersparnisse verloren. In der aktuellen Situation profitieren auch viele Firmen, vor allem große Konzerne: Sie geben die höheren Preise für Energie und andere Rohstoffe an ihre Kundinnen und Kunden weiter. Die hohen Preise und Energiekosten belasten besonders Menschen mit kleinen Einkommen. Die leiden insbesondere unter den steigenden Kosten für Dinge, die sich nicht einfach einsparen lassen: Essen, Sprit für den Weg zur Arbeit, aber auch Wohnung und Heizung.

Inflation und Wohlstand

Die Inflationsrate allein sagt aber wenig darüber aus, ob es Menschen besser oder schlechter geht. Solange der Wohlstand schneller wächst als die Inflation, ist eigentlich alles in Ordnung. Die allermeisten Dinge sind über die vergangenen 50 Jahre deutlich billiger geworden, wenn man nicht den Preis in Euro, US-Dollar oder D-Mark heranzieht, sondern die Arbeitszeit, die aufgewendet werden musste, um sie zu bezahlen. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hat ausgerechnet, dass die bzw. der Deutsche für einen Liter Benzin im Jahr 1960 im Schnitt 16 Minuten arbeiten musste. Im Jahr 2021 waren es nur noch fünf Minuten. Wo lag der Preis für Benzin im Jahr 1960, umgerechnet in heutige Euros? Bei 30,7 Cent für den Liter.

Der Hauptgrund dafür, dass wir dennoch deutlich weniger arbeiten müssen für Sprit als vor 60 Jahren, sind die gestiegenen Gehälter. Die Deutschen verdienen heute im Schnitt mehr als 14-mal so viel wie im Jahr 1960. Das hat die Inflation mehr als ausgeglichen.

Die aktuelle Situation

Die Inflation der letzten Monate ist untypisch – weil eben nicht die Mehrheit der Preise in gleichem Maße stieg, sondern wenige Dinge die Inflation befeuerten: vor allem Energie und einige Lebensmittel. Ökonominnen und Ökonomen haben genau für dieses Szenario eine besondere Kennzahl entwickelt: die sogenannte Kerninflation. Dabei werden die Dinge aus
dem Warenkorb geschmissen, die traditionell stark im Preis schwanken, zum Beispiel weil sie vom Ölpreis abhängen. Die Kerninflation lag in Deutschland im September 2022 bei 4,6 Prozent (Gesamtinflationsrate: zehn Prozent). Das ist sowohl eine gute als auch eine schlechte Nachricht.

Es bedeutet, dass viele Dinge des alltäglichen Lebens bis jetzt noch nicht von der Teuerungswelle erfasst wurden. Es stellt die Europäische Zentralbank aber auch vor ein großes Dilemma: Die Dinge, die gerade besonders teuer geworden sind, lassen sich nur schwer ersetzen oder einsparen. Die Menschen müssen weiter essen. Sie können vielleicht Leitungswasser statt Coca-Cola trinken, aber Mehl brauchen sie weiter und Butter und Eier. Sie müssen zur Arbeit fahren und im Winter heizen. Die Zentralbank kann den Leitzins zwar erhöhen und das Geld verknappen, aber das wird bei diesen Produkten die hohe Nachfrage kaum abmildern – und die Preise werden in der Folge kaum sinken. Und: Je stärker die Zentralbank den Leitzins erhöht, desto wahrscheinlicher wird es, dass die Wirtschaft in eine schwere Rezession stürzt. Der Zentralbank fehlt derzeit ein gutes Mittel, um die Preissteigerungen zu bekämpfen.

Rückgang der Inflation

Gleichzeitig heißt das aber auch: Sobald sich die Energiepreise wieder normalisieren, wird auch die Inflation zurückgehen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht deshalb in einer aktuellen Einschätzung davon aus, dass die Inflationsrate auf lange Sicht wieder sinken wird.