Das Zeitalter der Einsamkeit
Auch unsere moralischen Grundsätze, unsere gelebte gesellschaftliche Realität legen wir in der Vernetzung mit anderen fest. Wie muss ich mich verhalten, damit andere mich akzeptieren? Was ist Gerechtigkeit? Wann muss ich andere verteidigen, wann mich selbst? Wo finde ich Schutz, wenn mir Gefahr droht? Um sich gegenseitig zu schützen, schlossen sich Menschen in Familienverbänden zusammen. Größer werdende Gemeinschaften brachten Regeln und Institutionen hervor bis hin zu unserem modernen Staat. Ob Stammesräte, Grundrechte oder Verfassungen – ihre Etablierung hat in der Geschichte der Menschheit zu notwendigen Paradigmenwechseln geführt, hin zu mehr Sicherheit für alle.
Je mehr Menschen an dem Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip beteiligt sind, desto besser geht es allen. Wie weit wir davon entfernt sind, erleben wir in unserer globalisierten und digital vernetzten Welt. Es ist paradox, denn obwohl immer mehr Menschen nah nebeneinander leben, gibt es immer weniger Berührung. Wir kommunizieren zwar mehr digital, begegnen uns aber weniger. Statt gemeinsam im Kino sitzen wir zu Hause vor dem Bildschirm und streamen. Doch neben der Digitalisierung verhindert auch die wachsende soziale Ungleichheit Begegnung und sorgt zugleich dafür, dass sich unsere Lebensrealitäten immer weniger überschneiden.
Uns fehlen zunehmend Orte und Gelegenheiten, an denen Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft wirklich aufeinandertreffen können. Auf diesen Trend wirkt die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger. Wir arbeiten im Homeoffice statt im Büro. Wir gehen online einkaufen und machen Sport via Videocall, statt uns mit anderen zu treffen. Schon länger gilt: Wir wohnen häufiger allein statt mit Partner oder Familie. Parteien, Gewerkschaften und die Kirchen verlieren Mitglieder. Die Konsequenz dieser Entwicklung beschreibt Noreena Hertz, Honorarprofessorin für Ökonomie am renommierten University College London, in ihrem Buch Das Zeitalter der Einsamkeit: Menschen nehmen ihre Umwelt als feindlicher und gefährlicher wahr, je isolierter sie sich fühlen. Wer einsam ist, wird nicht nur anfälliger für Fake News, sondern ist auch häufiger depressiv, stärker suizidgefährdet und öfter von Herzinfarkten oder Schlaganfällen betroffen. Das belegt eine Studie aus dem Fachmagazin Heart von 2018.