Vernetzen

Der Mensch ist ein kooperatives Wesen. Noch nie waren wir so vernetzt – und zugleich so einsam. Warum lässt unsere Kraft zur Verbindung nach?

Lisa Rüffer
Lesedauer: 3 Minuten

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Eine Zweijährige sitzt auf dem Schoß ihres Vaters. Den beiden gegenüber stapelt eine Anthropologin Blechdosen aufeinander. Eine der Dosen fällt ihr vom Tisch. Ein Impuls zuckt durch die Zweijährige. Das Kind möchte vom Schoß runter und der Frau die Dose reichen, doch der Vater hält es zurück. Die Pupillen des kleinen Mädchens weiten sich vor Erregung. Erst als ein anderer Erwachsener dazukommt und der Frau die heruntergefallene Dose reicht, entspannt sich das Mädchen wieder. Kinder entwickeln erst ab etwa vier Jahren ein Gefühl für soziale Gruppen und moralische Werte. Doch durch Versuche wie diesen kam der Psychologe und Neurowissenschaftler Michael Tomasello mit seinem Team am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie zu einem erstaunlichen Ergebnis: Schon Zweijährige zeigten, dass sie reflexhaft helfen und teilen. Das lässt sich sogar für Säuglinge nachweisen. Jedes Kind wird als kooperatives Wesen geboren. Nur im Austausch mit anderen werden wir zum Menschen. Kein anderes Säugetier ist nach der Geburt so lange abhängig von anderen. Aber auch als Erwachsene lernen wir von anderen, erfahren Wertschätzung, Kritik und Zusammenhalt.

Wir sind durch und durch soziale Wesen – nicht aus Selbstlosigkeit, sondern weil Netzwerke uns Vorteile bringen. Ein gutes Miteinander dient langfristig dem Wohlstand aller. Eine Hand wäscht die andere. Dank der Spiegelneuronen in unserem Hirn sind wir zu Empathie in der Lage. Sobald wir uns mit anderen identifizieren, fühlen wir mit ihnen – ob Trauer, Schmerz oder Glück. Das ist der Grund, weshalb Lachen und Gähnen ansteckend sind. Es braucht nicht viel, um diesen Urinstinkt anzusprechen. Wenn Menschen sich offen begegnen und sich nicht als Gefahr wahrnehmen, sind sie bereit zu kooperieren.

Das Zeitalter der Einsamkeit

Auch unsere moralischen Grundsätze, unsere gelebte gesellschaftliche Realität legen wir in der Vernetzung mit anderen fest. Wie muss ich mich verhalten, damit andere mich akzeptieren? Was ist Gerechtigkeit? Wann muss ich andere verteidigen, wann mich selbst? Wo finde ich Schutz, wenn mir Gefahr droht? Um sich gegenseitig zu schützen, schlossen sich Menschen in Familienverbänden zusammen. Größer werdende Gemeinschaften brachten Regeln und Institutionen hervor bis hin zu unserem modernen Staat. Ob Stammesräte, Grundrechte oder Verfassungen – ihre Etablierung hat in der Geschichte der Menschheit zu notwendigen Paradigmenwechseln geführt, hin zu mehr Sicherheit für alle. 

Je mehr Menschen an dem Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip beteiligt sind, desto besser geht es allen. Wie weit wir davon entfernt sind, erleben wir in unserer globalisierten und digital vernetzten Welt. Es ist paradox, denn obwohl immer mehr Menschen nah nebeneinander leben, gibt es immer weniger Berührung. Wir kommunizieren zwar mehr digital, begegnen uns aber weniger. Statt gemeinsam im Kino sitzen wir zu Hause vor dem Bildschirm und streamen. Doch neben der Digitalisierung verhindert auch die wachsende soziale Ungleichheit Begegnung und sorgt zugleich dafür, dass sich unsere Lebensrealitäten immer weniger überschneiden.

Uns fehlen zunehmend Orte und Gelegenheiten, an denen Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft wirklich aufeinandertreffen können. Auf diesen Trend wirkt die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger. Wir arbeiten im Homeoffice statt im Büro. Wir gehen online einkaufen und machen Sport via Videocall, statt uns mit anderen zu treffen. Schon länger gilt: Wir wohnen häufiger allein statt mit Partner oder Familie. Parteien, Gewerkschaften und die Kirchen verlieren Mitglieder. Die Konsequenz dieser Entwicklung beschreibt Noreena Hertz, Honorarprofessorin für Ökonomie am renommierten University College London, in ihrem Buch Das Zeitalter der Einsamkeit: Menschen nehmen ihre Umwelt als feindlicher und gefährlicher wahr, je isolierter sie sich fühlen. Wer einsam ist, wird nicht nur anfälliger für Fake News, sondern ist auch häufiger depressiv, stärker suizidgefährdet und öfter von Herzinfarkten oder Schlaganfällen betroffen. Das belegt eine Studie aus dem Fachmagazin Heart von 2018. 

Verbundenheit und Vernetzung 

Weil aus diesem gesellschaftlichen auch ein politisches Problem entsteht, beginnen die Regierungen zu handeln. Großbritannien gründete 2018 ein Ministerium gegen die Einsamkeit in der Gesellschaft. Die neue Ministerin soll die Bindungen zwischen den Menschen schützen. Auch Japan zog in diesem Jahr nach. Zuvor war die Zahl der Selbstmorde im asiatischen Inselstaat gestiegen und die Verbrechen von Menschen über 65 Jahren hatten sich in den letzten zwei Jahrzehnten vervierfacht. Forschende der Ryūkoku-Universität gehen davon aus, dass insbesondere ältere japanische Frauen durch Kleinkriminalität bewusst Haftstrafen provozieren, um der Einsamkeit zu entfliehen. Wie konnte es so weit kommen? Die Ökonomin und Globalisierungskritikerin Hertz sieht neben der Digitalisierung den Kapitalismus mitverantwortlich, der den Menschen vom Homo cooperativus – dem nach Kooperation und Vernetzung strebenden Menschen – zum nutzenmaximierenden Homo oeconomicus machte, der in einer klaren Präferenzordnung Leistung über Solidarität stellt. Wer in unserer Wohlstandsgesellschaft krank, arm oder arbeitslos ist, ist besonders stark von Einsamkeit betroffen. Aber nicht allein sozioökonomische Gründe bestimmen, wie aufgehoben wir uns fühlen. Dass das Problem vielschichtiger ist, zeigt die Forschung von Andreas Reckwitz, Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. In seinem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten beschreibt er, wie auch unsere kulturelle Entwicklung zu mehr Einsamkeit beiträgt. Demnach orientieren wir uns in unserer spätmodernen Gesellschaft immer stärker daran, was das Individuum einzigartig macht. Und diese Orientierung am Individuellen hat den Wert allgemeingültiger Normen und Regeln verdrängt, auf die wir als Gesellschaft angewiesen sind. Durch die starke Betonung dessen, was uns unterscheidet, wird der Raum für Begegnung enger. 

Um unsere Kraft zur Verbindung zu stärken und voneinander zu lernen, sollten wir uns also fragen: Was verbindet uns? Dafür müssen wir uns wieder wirklich begegnen: in lebendigen Stadtzentren, in Bibliotheken, Parks, Kaffeehäusern, bei Veranstaltungen und Bürgerdialogen, initiiert von Einzelnen, von Regierungen, Gemeinden, Institutionen, Stiftungen, Vereinen und Konzernen. Denn unsere Fähigkeit zur Empathie und zu einem friedlichen Zusammenleben ist abhängig davon, dass wir Beziehungen eingehen. Schon Zweijährige wissen das instinktiv. 

Aus der Stiftung – Bildung

NOUVEAUX HORIZONS

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