Stärken

Im 21. Jahrhundert müssen wir uns neue Fähigkeiten aneignen, um in einer komplexer werdenden Welt zu bestehen. Aber sind wir schon so weit?

Lisa Rüffer
Lesedauer: 3 Minuten

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Groß und mächtig ist der Ölbaum, der auf das zarte Schilfrohr herabsieht. „Du entbehrst jeder Stärke und lässt dich vom Wind hin und her bewegen“, tadelt der Baum das zarte Gewächs. Das Schilfrohr schwankt und schweigt. Doch als ein heftiger Sturm kommt, zeigt sich, dass es mit der Stärke des Ölbaums nicht weit her ist: Das Schilfrohr biegt sich und stellt sich dann wieder auf. Den Ölbaum aber, der sich ihm mit aller Kraft entgegenstemmt, bricht der Sturm. Die Moral von Aesops Fabel vom Schilfrohr und dem Ölbaum scheint klar: Der Klügere gibt nach. Und es steckt noch mehr darin. Ist das, was der Ölbaum unter Stärke versteht, überhaupt noch zeitgemäß? Was ist das heute: Stärke – und wie werden wir von klein auf stark? 

Margret Rasfeld, Bildungsinnovatorin und Mitgründerin der Initiative Schule im Aufbruch, gibt darauf eine klare Antwort: „Was heute gebraucht wird, sind Kinder, die an sich glauben. Die Verantwortung für sich, für andere und für den Planeten übernehmen, die gelernt haben, mit Diversity umzugehen und lösungsorientiert zu denken und zu handeln.“ Bildlich gesprochen bildete die 70-Jährige, die selbst 20 Jahre lang eine Schule leitete, junge Schilfrohre aus. Die Schülerinnen und Schüler lernten dort in Teams, sich zu vernetzen und mit immer neuen Situationen umzugehen – auch durch herausfordernde Aufgaben wie das 150-Euro-Projekt. Vier Mittelstufenschülerinnen wanderten, begleitet von einer Studentin, drei Wochen lang von Berlin nach Hamburg. Ausgestattet mit 150 Euro pro Nase. Sie mussten kreativ werden, um damit auszukommen. Streckenweise war diese Zeit hart für die Jugendlichen. Mehr noch für die Eltern, berichtet Rasfeld. Die sorgen sich bei solchen Projekten, ihre Kinder könnten das nicht schaffen. Doch die Erfahrung der Bildungsinnovatorin ist eine andere. Heranwachsende bewältigen viel mehr, als wir glauben. Wenn wir sie nur lassen. Die vier Mädchen kamen sicher in Hamburg an. Sich in solch ungewissen Situationen behaupten zu können, bringt Kinder weiter als das bloße Abarbeiten straffer Lehrpläne. 

Die neue VUCA-Welt

Traditionelles Wissen allein reicht nicht aus in einer Welt, die sich immer schneller verändert. Gefragt sind neue digitale Fähigkeiten und Schlüsselkompetenzen wie flexible, teamübergreifende Zusammenarbeit. Das verändert auch massiv unser Verständnis von Arbeit. Im hochentwickelten Industrieland Deutschland galt Fachwissen viele Jahrzehnte als identitätsstiftend für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Lebensläufe entwickelten sich linear. Ein KFZ-Mechaniker begann einen Job in der Automobilindustrie und wurde im Laufe seiner Arbeitsjahre nach und nach zum Gesellen, Meister und Experten. Sein Wissen gab er an Jüngere weiter. Für Probleme gab es Lösungen, die der Experte dank seiner Erfahrung sofort parat hatte. Mit dem technologischen Fortschritt hat sich das verändert. Das Berufsbild des einstigen Autoschraubers hat sich um Elemente der Elektrotechnik und Informationstechnik erweitert, da in modernen Fahrzeugen und Maschinen inzwischen eine Menge Technologie steckt. Und die Entwicklung neuer Fahrzeuge geht weiter. Wer in diesem Fel arbeitet, muss sich deshalb ständig weiterbilden.

Um diese neue Welt zu beschreiben, nutzt die Organisationspsychologie ein Kürzel: VUCA. Die VUCA-Welt setzt sich aus den englischen Anfangsbuchstaben für Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit zusammen. In dieser Welt weht ein steter Sturm aus unbekannter Richtung. Die Beständigkeit und Unbeweglichkeit eines Ölbaums können hier zum Problem werden. Wir müssen daher lernen, beweglich zu sein, neu und anders zu denken. Die US-amerikanische Psychologin und Motivationsforscherin Carol Dweck hat dafür den Begriff des Growth Mindset etabliert und in ihren Studien zur Lernmotivation von Menschen zwei Gruppen definiert. Diejenigen mit einer festgefahrenen Denkweise (Fixed Mindset) halten ihre Fähigkeiten für angeboren und begrenzt. Sie glauben, daran selbst nicht viel ändern zu können. Man kann Mathe – oder eben nicht. Sie halten an Traditionen fest und hinterfragen sie seltener. Diese Menschen denken Sätze wie „besser keine Fehler machen“, weil im Fall eines Misserfolgs ihr Selbstbild in sich zusammenfällt. Im Gegensatz dazu haben jene mit einer dynamischen Denkweise (Growth Mindset) gelernt, dass ihr Erfolg auf harter Arbeit, stetiger Weiterentwicklung und Hartnäckigkeit basiert. Sie sehen Fehler auch als Chance und lernen gerne Neues. Diese Beweglichen, die ihre Schwächen anerkennen und nutzen können, sind in der VUCA-Welt erfolgreicher. Sie empfinden diese Welt mehr als Abenteuerspielplatz mit immer neuen Wachstumsmöglichkeiten und weniger als Bedrohung unveränderlicher Ordnung. 

Beweglichkeit lernen

Carol Dwecks Forschung unterstreicht die beliebte Forderung nach lebenslangem Lernen. Die drei Glaubenssätze linearer Lebensläufe „Das haben wir schon immer so gemacht!“, „Wo soll das denn enden?“ und „Da kann ja jeder kommen!“ sind heute nicht mehr zeitgemäß. Wir wissen nicht, wie wir es morgen machen werden, wir wissen nicht, wo es enden wird, und, ja, es kann tatsächlich jeder kommen, wenn er oder sie die richtige Idee im Gepäck hat. Die gute Nachricht ist, dass mit positiven Lernerlebnissen auch bei Erwachsenen noch aus einem Fixed ein Growth Mindset werden kann. Die schlechte Nachricht ist, dass die Forschung nur belegen kann, dass grundsätzlich jede und jeder ihre bzw. seine Lage verbessern kann. Diese Erkenntnis hilft allerdings wenig, wenn veraltete Strukturen in der Berufswelt oder die Rückkehr zu überwunden geglaubter familiärer Aufgabenteilung das verhindern. Gerade die Corona-Pandemie und ihre Einschränkungen haben gezeigt, dass emanzipatorischer Fortschritt und Gleichberechtigung mancherorts nur bis zur nächsten Krise reichen. Viele Mütter haben in Zeiten geschlossener Schulen und Kitas zwischen Homeoffice und Homeschooling rotiert und im Beruf zurückgesteckt. Das belegt der „Women in Work Index“ 2021, mit dem die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC jährlich die berufliche Situation von Frauen in den 33 OECD-Ländern analysiert. Für manche Mutter hieß das – richtige Denkweise hin oder her –, den Job, der ohnehin nur in Teilzeit ausgeübt wurde, ganz aufzugeben oder beruflich zurückzufallen. 

Die Fabeln Aesops entstanden vor rund 2.500 Jahren. Es ist eine uralte Frage, mit welchem Rüstzeug wir der Welt gestärkt entgegentreten. Doch nach der Lektüre der kleinen Geschichte haben sich nicht Ölbaum und Schilfrohr verändert, sondern unser Blick auf sie. Es gibt sie also, die Wahrheiten, an denen wir uns orientieren können. Dass es hilft, die eigene Einstellung zu ändern, ist eine davon. 

Aus der Stiftung – Gesellschaft & Kultur

LÄUFT BEI DIR!

Werte. Wissen. Weiterkommen. Das Programm stärkt Jugendliche am Übergang zwischen Schule und Beruf. Auszubildende und Berufsschülerinnen und -schüler erleben in kreativen Seminaren und Trainings, wie wir im gesellschaftlichen Miteinander mit Konflikten umgehen, auf welches Wertefundament unsere Demokratie gebaut ist – und wie wir sie mutig verteidigen können. Mehr Infos unter:

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