Stärkung der Demokratie
Zusammenhalt leben

Die Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sie muss gelebt und gelehrt werden. Ansätze, eine offene Gesellschaft auch in Krisenzeiten zu erhalten.

Benno Stieber
Lesedauer: 4 Minuten

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Die Zeit drängt, der Hacker hat sein Versteck nur kurz verlassen. Wenn die Mädchen und Jungs dort die richtigen Passwörter und Schlüssel finden, Hinweise zusammenfügen und Rätsel lösen, können sie sein nächstes Opfer vor einem Shitstorm bewahren. Also los. Manche stürzen sich auf eine verschlossene Schatulle, andere versuchen ein Bilderrätsel zu knacken oder anhand von biografischen Angaben die Identität des Hacker-Opfers zu entschlüsseln.

Eine Dreiviertelstunde hat die elfte Klasse des Ludwigsburger Wirtschaftsgymnasiums Zeit, dem fiktiven Hacker spielerisch das Handwerk zu le-gen. Der Escape Room Hacker Attack ist Teil des demokratiebildenden Projekts Läuft bei Dir!, das die Baden-Württemberg Stiftung gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung ins Leben gerufen hat. Nach dem Spiel geht es ins Seminar und in die Diskussion: Sind Influencer wirklich die netten Typen, die selbstlos gute Tipps geben, oder ist das interessengesteuert? Wem kann man im Netz überhaupt glauben? Bin ich nicht längst nur noch von Leuten umgeben, die dasselbe denken wie ich? Und wo kommen die ganzen Hater her?

Und die wichtigste Frage: Was hat das überhaupt mit Politik zu tun? Seminarleiterin Manuela König hilft den Schülerinnen und Schülern auf die Sprünge. „In einer freien Gesellschaft entscheidet jeder mit, wie wir zusammenleben wollen“, sagt sie. Lucy-Ann (16) findet, es sei auch eine Frage der Entschlossenheit: „Wir haben schon eine Mitschuld, wenn wir Hate-Kommentare lesen, sie aber nicht melden.“ Klar sei es auch politisch, zu diskutieren, was verboten gehöre, was erlaubt bleiben sollte, sagen jetzt andere.

Investition in Demokratie
„Demokratie heißt, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen“, so hat es der Schriftsteller Max Frisch in seinen Tagebüchern formuliert.
Der Seminartag in Ludwigsburg war ein Erfolg, wenn diese Erkenntnis bei den Schülerinnen und Schülern hängen geblieben ist. Die Regeln und Strategien dafür möglichst früh zu erlernen, dafür gibt es Gemeinschaftskundeunterricht, deshalb investiert das Land über seine Landeszentrale jährlich 2,1 Millionen Euro in politische Bildung. Auch die Baden-Württemberg Stiftung fördert demokratiebildende Programme, für das Jahr 2024 bewilligte der Aufsichtsrat mehr als 4 Millionen Euro. Teilhabe aller, Streit um den richtigen Weg, sich engagieren, wählen gehen und auch mal ein Amt übernehmen: Dies schon bei Kindern und Jugendlichen zu verankern, darum geht es.

Denn Demokratie ist kein Selbstläufer. Anders als vielleicht noch in den 90er-Jahren vermutet, tritt sie nicht wie von selbst im Huckepack mit Wohlstand ihren Siegeszug um die Welt an. Im Jahr 2022 zählte der Transformationsindex der Bertelsmann-Stiftung erstmals seit 2004 wieder mehr Autokratien als Demokratien. Aber auch in demokratisch verfassten Ländern säen Populisten Zweifel an einem Staat, in dem Interessen ausgeglichen, Minderheiten geschützt und sich alle, auch Politiker, einem Rechtsstaat unterwerfen müssen. Wahlen, „Checks and Balances“, das ist ein aufwändiges System, Kompromisse müssen in zähen Verhanlungen erzielt werden, sie sind mit politischem Streit verbunden: Verordnungen und Regeln machen das Leben vielleicht sicherer, aber eben für den Einzelnen auch mühsam und bürokratisch. Sind autoritär geführte Staaten nicht einfach schneller und effizienter?

Die weltweite Corona-Pandemie hat zwar eher das Gegenteil bewiesen: Demokratische Länder konnten ihre Bevölkerung in der Regel besser schützen als autokratische Systeme, die die schlechteren Impfstoffe lieferten und Menschen in Betrieben und Wohnungen oft wochenlang einsperrten. Aber gerade in Zeiten von Krisen neigen viele Menschen zu einfachen Antworten. Dazu kommt: Die Deutschen sind schon länger wahl- und politikmüde. Vor allem bei Kommunal- und Landtagswahlen fällt die Beteiligung eher mau aus. Forscher besorgt insbesondere ein starkes Ohnmachtsgefühl in der Bevölkerung. Der aktuellen Leipziger Autoritarismus-Studie zufolge sind 75 Prozent der Deutschen der Ansicht: „Leute wie ich haben keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut.“ Vielleicht noch bedenklicher ist, dass 66 Prozent der Befragten der Aussage zustimmten: „Ich halte es für sinnlos, mich politisch zu engagieren.“

Ambivalentes Bild bei Jugendlichen: Rund 87 Prozent der Befragten in der Jugendstudie Baden-Württemberg 2022 bewerteten die Demokratie positiv. Allerdings sympathisierten auch rund 30 Prozent mit dem Modell eines „starken Staatschefs“, der sich nicht um Parlamente oder Wahlen kümmern muss.

Entfremdung und Verschwörung
Das liegt auch an der – zumindest gefühlten – Entfremdung des politischen Betriebs von der Bevölkerung, die sich etwa in der Zusammensetzung der Parlamente manifestiert. Würden sich alle Juristinnen und Juristen im aktuellen Bundestag zu einer Fraktion zusammenschließen, sie würden dort die zweitstärkste Kraft bilden. Menschen mit kleineren Einkommen hingegen, vom Land oder aus Kleinstädten, sind unterrepräsentiert. Mit der Entfremdung geht ein Vertrauensverlust einher – das bekommen vor allem etablierte politische Parteien zu spüren. Nur noch 27 Prozent der Bevölkerung sagen, dass sie Parteien eher vertrauen würden. Entsprechend hat sich auch die Zahl der Parteimitglieder seit 1990 mehr als halbiert. Heute sind noch gerade mal 1,2 Millionen Menschen bundesweit Mitglied einer Partei.

Doch das Problem ist womöglich noch vielschichtiger: Der Wuppertaler Soziologe Hans Joachim Lietzmann, der lange zu Demokratie und Bürgerbeteiligung geforscht hat, stellt fest, dass die Erosion des Vertrauens in Institutionen mit einer stetig wachsenden Selbstermächtigung der Bürgerinnen und Bürger einhergeht. „Die Menschen versorgen sich selbst mit Informationen und sie vertrauen Politikern heute ebenso wenig wie zum Beispiel der Kirche“, sagt Lietzmann. Kaum jemand glaube heute noch, dass Politiker besondere Fähigkeiten haben müssten. „Die Bürger leben in einem Gefühl der Selbstwirksamkeit, haben aber zugleich enorme Angst davor, tatsächlich alles selbst entscheiden zu müssen“, sagt Lietzmann. Das sorge für Widersprüche, auch in ihrem Verhalten. Einerseits glauben Bürger, wie in den Corona-Lockdowns, selbst am besten für sich sorgen zu können, andererseits sehnen sie sich nach klaren Lösungsvorgaben der Politik. Und ebenso widersprüchlich können die Gründe sein, warum Menschen nicht wählen gehen: etwa, weil sie möglicherweise ganz zufrieden sind. Oder aber weil es ihnen nicht reicht, das kleinere Übel zu wählen. Unpolitisch sind Nichtwähler deshalb noch lange nicht, auch längst nicht immer passiv und desinteressiert, sondern eher weniger kompromissbereit.

Aber Demokratie erfordert Frustrationstoleranz. Wolfgang Schäuble, langjähriger Bundesminister, Bundestagspräsident und bis zu seinem Tod über 50 Jahre Mitglied des Bundestags, hat es einmal so formuliert: „Demokratie beruht auf der Bereitschaft zu akzeptieren, dass andere Meinungen ihren Platz haben, auch wenn sie der eigenen widersprechen. Und anzuerkennen, dass am Ende nicht entscheidend ist, was ich denke, sondern was die Mehrheit entscheidet. Deshalb ist Demokratie ein anspruchsvolles Modell des Zusammenlebens.“ Schäuble fragte: „Wer beugt sich schon gerne einer Meinung, die er persönlich für falsch hält?“

Es scheint, als sinke die Bereitschaft dazu in der Bevölkerung. Deutschland konnte lange ganz zufrieden sein mit seinem – verglichen mit anderen europäischen Ländern – milden Protestklima. In Krisenzeiten sieht es nun aber so aus, als würden sich immer mehr Unzufriedene von demokratischen Prinzipien abwenden. Die repräsentative Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung sieht eine wachsende Minderheit der Bevölkerung, die mit einer Diktatur und totalitären Einstellungen flirtet. Fast 17 Prozent vertreten nationalchauvinistische Ideen, behaupten also die nationale Überlegenheit Deutschlands und stellen die eigene Volkszugehörigkeit über andere Länder. Knapp sieben Prozent wünschen sich einen starken Führer, etwa doppelt so viele wie in früheren Jahren.

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