Mehr Energie für ein gutes Leben
Resilienz im Alter

Unsere Lebenserwartung steigt. Wie ältere Menschen gesund und sozial aktiv bleiben, das bewegt den Psychologen und Altersforscher Andreas Kruse, Seniorprofessor distinctus der Universität Heidelberg. Ein Gespräch darüber, was alte Menschen stärkt – und wie sie unsere Gesellschaft stärken.

Isabel Stettin
Lesedauer: 4 Minuten

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Herr Kruse, was bedeutet für Sie gutes Altern?

ANDREAS KRUSE Jede Lebensphase wertschätzen zu können, trotz Verlusten oder Beeinträchtigung. Jede Lebensstufe hat ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Im Alter bedeutet das für viele, sich neue Beschäftigungen und Sinnquellen zu erschließen. Ein belastungs­ und krisenfreies Leben kann nicht unser Ziel sein. Es ist gut, wenn wir gefordert werden. Wir dürfen nur nicht ständig überfordert sein.

Wie hilft die Resilienz dabei?

AK Im Alter bekommt sie eine besondere Bedeutung: Wie gehen wir damit um, wenn wir nicht mehr so leistungsfähig sind, das Gedächtnis nicht mehr so funktioniert? Armut, der Umzug in ein Pflegeheim, der Verlust geliebter Personen, Einsamkeit, Krankheiten, all das kann uns irgendwann treffen und belasten. Doch mit dem Alter gehen auch neue Möglichkeiten der Selbstgestaltung einher: Menschen zeigen vielfach eine Vertiefung ihrer Gefühlswelt. Die seelische Widerstandsfähigkeit ist gerade bei alten Menschen oft stark. Wer manches durchgestanden hat, kann auch eher darauf vertrauen, künftige Krisen bewältigen zu können.

Was macht Menschen im Alter resilient?

AK Resilienz entwickeln wir unser Leben lang. Unsere Gene, unsere Ernährung und unser Lebensstil sind dabei von großer Bedeutung. Aber auch das Einkommen, die Bildung oder die Wohnsituation. Es stärkt uns, wenn wir uns bewusst mit dem Älterwerden auseinandersetzen: vom altersgerechten Gestalten der Wohnung bis hin zum sozialen Netzwerk, das wir uns aufbauen. Auch hilft es, anzunehmen, dass die Medizin nicht alle Probleme lösen kann.

Welche Rolle spielt dabei die persönliche Einstellung?

AK Es ist wichtig, eine akzeptierende Haltung gegenüber Unabänderlichem und der Endlichkeit des Lebens zu entwickeln. Nehmen wir etwa Schmerzpatienten. Die einen sagen: „Das schränkt meine Lebensqualität kaum ein.“ Andere reagieren mit Angstzuständen oder depressiv. Ich erinnere mich an eine Dame, die ich für eine Studie über Hochbetagte befragt hatte: eine Physikerin, etwa 85. Sie war optimistisch – trotz starker chronischer Schmerzen. Sie gab ehrenamtlich Physik­Nachhilfe und erzählte: „Wenn ich morgens aufwache und weiß, das kann ich tun, dann bin ich glücklich. Dann vergesse ich mein Leiden.“ Diese Frau hat sich im Laufe ihres Lebens Ressourcen erworben: Sie hat ihre Persönlichkeit entwickelt, Humor ausgebildet. Der Schlüssel für viele resiliente Hochbetagte ist es, spüren zu können: Andere Menschen brauchen mich. Das hilft, über sich hinauszuwachsen.

Entscheidend ist, sich zugehörig zu fühlen?

AK Genau, Teil der Gesellschaft zu sein bedeutet nicht nur: „Es soll für mich gesorgt werden“ – sondern auch: „Ich will für andere sorgen.“ Ich habe lange Tumorpatienten begleitet: „Herr Kruse, werden Menschen noch an mich denken, wenn ich nicht mehr bin?“ Dieses Thema war für viele bedeutsam. Nachfolgende Generationen zu unterstützen und so symbolisch fortzuleben, ist vielen ein Antrieb.

Die Zahl der Hochbetagten in Baden-Württemberg ist auf einem Höchststand. Laut Statistischem Landesamt lebten Ende 2022 rund 352.500 Personen im Land, die 85 Jahre oder älter waren. Knapp zwei Drittel der Hochbetagten waren Frauen (223.900) und lediglich ein Drittel Männer (128.700). Rund 3.300 der Hochbetagten sind sogar 100 Jahre oder älter, auch diese Zahl ist ein Rekord.

Wie können wir als „alternde Gesellschaft“ Resilienz fördern?

AK Wir Menschen haben das Bedürfnis nach Autonomie, Freiheit und Teilhabe. Deshalb müssen wir soziale Ungleichheit abbauen und den Menschen, die wenig haben, Ressourcen zukommen lassen, um ihre Widerstandsfähigkeit zu fördern. Wichtig ist, dass Menschen aktiviert und motiviert werden, dass sie körperliche, geistige und emotionale Anregungen erfahren. Isolation und Einsamkeit von älteren Menschen müssen wir entgegenwirken. Hierfür müssen wir Orte der Begegnung anbieten. Das ist eine wichtige Aufgabe, etwa von Seniorenbüros.

Was können wir von älteren Menschen und ihrer Erfahrung lernen?

AK Ich habe an einer Studie zu den Spätfolgen des Holocausts mitgewirkt. Mich hat beeindruckt, wie sich einige der Überlebenden für Aufklärung einsetzten: Sie wollten mit ihrem Schicksal, ihrer Geschichte hinaus in die Welt und für die Demokratie kämpfen. Das zeigt uns, wie schöpferisch Menschen selbst mit furchtbarsten Erfahrungen umgehen können, wenn die Gesellschaft das dankbar aufgreift. Was ich an all diesen Menschen beobachte, die mich inspirieren: Sie sind offen, menschenfreundlich, neugierig und beweglich geblieben. Es ist nie zu spät, etwas Neues anzufangen und das Leben bis zum letzten Moment zu gestalten.
 

Die Kraft der Alten: Fünf Thesen Deutschland wird immer älter. Zeit, das Potenzial zu nutzen, das in alten Menschen schlummert. Wie das gelingen kann? Fünf Thesen des Altersforschers Andreas Kruse.

Materielle Ressourcen, Bildung und Teilhabemöglichkeiten sind entscheidend für resilientes Altern. Wir müssen unseren Fokus darauf richten, soziale Ungleichheiten auch bei Hochbetagten abzubauen.
 

Gesundheit ist ein hohes Gut, das es uns ermöglicht, unser Leben in den Dienst von Aktivitäten von hohem Wert zu stellen: den Dienst am anderen Menschen, an unserer Gesellschaft, an unserer Demokratie. Viele Hochbetagte würden dieses mitverantwortliche Leben gerne noch führen. Von der Gesundheit Einzelner profitiert unsere Gemeinschaft.

80­-Jährige und Ältere können körperlich beeinträchtigt sein bei gleichzeitig bemerkenswerter seelisch-geistiger Wachstumsfähigkeit. Menschen besitzen auch im Fall eines Hilfebedarfs ein geistiges Potenzial, das wir ansprechen müssen.

Digitale Kompetenz hilft älteren Menschen, das Internet oder Apps zu nutzen, um Anregungen empfangen und geben zu können. Auch wenn das soziale Beziehungen nicht ersetzt: Es hilft allen, die nicht die Kraft haben, sich im öffentlichen Raum zu bewegen.

Wir brauchen eine Gesellschaft, die das Potenzial des Alters erkennt. Wir müssen Altersdiskriminierung beenden und das Alter als Lebensphase begreifen, die mit ihrem Erfahrungsschatz zum kulturellen und politischen Fortschritt beitragen kann.

Aus der Stiftung – Gesellschaft & Kultur

Netzwerk für Generationen

Jung und Alt müssen zusammenhalten – nie war das so wichtig wie in der heutigen Zeit, wenn aktuelle Krisen mit den Herausforderungen des demografischen Wandels zusammentreffen. Mit dem Programm Netzwerk für Generationen unterstützt die Baden-Württemberg Stiftung Gemeinden und Städte dabei, generationenübergreifende Antworten für ein gutes Miteinander zu finden. Konkrete Projekte können zum Beispiel Familienbesuche, Kultur- und Bildungspaten für Kinder, Hausbesuche für ältere Menschen oder Nachbarschaftshilfen sein. Die Baden-Württemberg Stiftung unterstützt beim Aufbau der Netzwerke mit Beratung, Qualifizierung und auch einer Anschubfinanzierung.
 

Mehr erfahren: www.bwstiftung.de/generationen