Wie viel Freiheit ist uns unsere Sicherheit wert?

Es gibt keine Freiheit ohne Sicherheit, keine Sicherheit ohne Freiheit. Wie bringen wir diese beiden Prinzipien in die richtige Balance? Eine Betrachtung.

Benedikt Herber
Lesedauer: 3 Minuten

Rainer Wendt erinnert sich daran, wie er am Nachmittag des 11. September 2001 mit seiner Familie im Auto saß. Der Radiosprecher berichtete, zwei Flugzeuge seien in die Türme des New Yorker World Trade Centers geflogen. „Meine beiden Töchter auf dem Rücksitz sagten, sie haben Angst“, erzählt Wendt, der damals Dienstgruppenleiter der Duisburger Polizei war. „Und mir ging es genauso.“ Ihm sei sofort klar gewesen, dass seine Kolleginnen und Kollegen auf eine Tat wie diese nicht vorbereitet waren. In den darauffolgenden Jahren machte er es sich zur Aufgabe, Deutschland sicherer zu machen. Heute ist Wendt Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft und gilt als Deutschlands kompromisslosester Verfechter von Recht und Ordnung.

Vor 9/11 spielte das Thema Sicherheit für die Deutschen keine zentrale Rolle. Es war das Zeitalter der Freiheit: Der Eiserne Vorhang war gefallen, Menschen (aus den wohlhabenden Weltregionen) und Waren bewegten sich nahezu ungehindert über den gesamten Erdball. Hinzu kam mit dem Internet eine völlig neue Sphäre der weltumspannenden Kommunikation. Doch mit den New Yorker Twin Towers schien der Glaube an grenzenlose Freiheit in sich zusammenzubrechen. Terroristen missbrauchten die Symbole der Globalisierung und des Liberalismus für ihre Ziele: Über das Internet konnten die weltweit operierenden Al-Qaida Zellen Anschläge planen, bequem vom Schreibtisch aus. Und Flugzeuge, die mehr als jedes andere Mobilitätsmittel für grenzenlose Bewegungsfreiheit stehen, wurden zur mörderischen Waffe. Einen Monat nach den Anschlägen beschloss der US-Kongress den USA PATRIOT Act. Durch dieses Bundesgesetz bekamen die Sicherheitsbehörden weitreichende Befugnisse für die Terrorabwehr zugesprochen – unter anderem darf das FBI, die zentrale US-Sicherheitsbehörde, seitdem ohne richterlichen Beschluss Terrorverdächtige abhören. Auch in Deutschland setzte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily nur einen Monat nach den Anschlägen Maßnahmen durch. Das Terrorismusbekämpfungsgesetz
ermöglichte es Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz, Fluggastdaten auszuspähen. Eigentlich sollte das Gesetz auf fünf Jahre befristet sein – es gilt bis heute, wurde 2020 sogar entfristet.

Sind Überwachungsmaßnahmen legitim, weil sie dazu beitragen, Attentate zu verhindern und Menschenleben zu retten? Immerhin 40 Prozent der Deutschen sagten im Jahr 2013, sie befürworteten die Massenüberwachung von Bürgerinnen und Bürgern im Internet. Kurz zuvor hatte der Whistleblower Edward Snowden aufgedeckt, wie weitreichend diese mittlerweile ist. Er machte bekannt, dass der US-Auslandsgeheimdienst NSA weltweit und verdachtsunabhängig Menschen überwacht. Millionen E-Mails, die mitgelesen, Handytelefonate, die abgehört werden – von der Kanzlerin über Wirtschaftsgrößen bis hin zu den einfachen Bürgerinnen und Bürgern. Im Jahr der Enthüllungen warnte Snowden: Die Überwachung übertreffe George Orwells Dystopie im Roman 1984. „Wir haben Detektoren in unseren Taschen, die uns folgen, wo immer wir hingehen“, sagte Snowden. „Denken Sie darüber nach, was das für den Durchschnittsmenschen bedeutet.“

Das gesellschaftliche Selbstverständnis hat sich seit dem 11. September verändert. Wenn man sich absolute Freiheit und absolute Sicherheit als zwei Enden einer Skala vorstellt, dann könnte man sagen: Der Punkt, der den Zustand der Welt beschreibt, hat sich weit in Richtung Sicherheit verschoben. Doch ist das ein Problem? Braucht nicht jede Gesellschaft ein gewisses Maß an Sicherheit, damit sich alle Bürgerinnen und Bürger wohlfühlen?

Das Handy als „Big Brother“: Geheimdienste können Standortdaten erfassen, Bewegungsprofile erstellen und Smartphones als Abhörwanzen nutzen – bis hinein ins Schlafzimmer.
Wie ein Schutzengel ist das Recht da, wenn man es braucht. Immer im Zwiespalt: Wie viel Freiheit muss dem Schutz geopfert werden?

Einer der Ersten, die über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit nachgedacht haben, war der Staatstheoretiker Thomas Hobbes. Hobbes lebte im England des 17. Jahrhunderts, das von einem blutigen Bürgerkrieg gebeutelt war. Entsprechend düster war sein Menschenbild: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“, schrieb Hobbes. Im Naturzustand, dem Zustand absoluter Freiheit, in dem keine staatliche Autorität existiere, würde die Welt in einem Krieg aller gegen alle versinken. Die einzige Rettung sei der „Leviathan“ – der starke, allmächtige Staat, der mit seiner strafenden Hand die Menschen züchtigt. An ihn geben sie ihr Selbstbestimmungsrecht ab, um im Tausch Sicherheit zu erhalten. Diese Sicherheit wiederum verwirkliche erst die „echte“ Freiheit: die Freiheit vor Furcht durch die Übergriffe anderer. Nur wer sich sicher fühle, könne frei sein. Ganz ähnlich wie Hobbes sieht es Rainer Wendt. „Ich bin davon überzeugt: Die freie Welt kann nur existieren, wenn wir für ausreichend Sicherheit sorgen“, sagt der Chef der Polizeigewerkschaft. „Wenn sich die Menschen nicht trauen, auf die Straße zu gehen, dann verbleicht etwa mit der Versammlungsfreiheit eines der wichtigsten Freiheitsrechte.“ Polizei und Menschenrechte würden oft als Gegensatz wahrgenommen – „dabei ist die Polizei in Wirklichkeit die größte Menschenrechtsorganisation der Welt“. Sie schaffe erst die Voraussetzungen dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte wahrnehmen könnten.

Maria Scharlau ist Menschenrechtsexpertin des Vereins Gesellschaft für Freiheitsrechte in Berlin und sieht vor allem die Überwachung der Bürgerinnen und Bürger durch den Staat kritisch. Rainer Wendts Diktum dreht sie um. Anstatt „ohne Sicherheit keine Freiheit“ sagt sie „ohne Freiheit keine Sicherheit.“ Denn die Freiheitsrechte verhinderten staatliche Willkür. Neue Überwachungstechnologien und andere Eingriffsmöglichkeiten könnten immer auch missbraucht werden, zum Beispiel von zukünftigen weniger grundrechtsorientierten Regierungen und Sicherheitskräften. Die Exekutive selbst wäre dann eine Gefahr für Leib und Leben. Eine solche Entwicklung kann fast überall dort beobachtet werden, wo sich diktatorische Regime durchsetzen.

 

Freiheit und Sicherheit scheinen also gar keine gegensätzlichen Enden einer Skala zu sein. Das Bild einer Wippe trifft es eher: Die Balance muss stimmen, damit die Gesellschaft im Gleichgewicht ist. Die Frage ist nur: Wann stimmt das Verhältnis? Und wann kippt es? Lesen Sie den großen Essay im Magazin.

Aus der Stiftung – Forschung

VERANTWORTLICHE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Die Baden-Württemberg Stiftung fördert zehn Projekte, die zeigen, wie eine verantwortungsvolle und gemeinwohlorientierte
Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) gestaltet werden kann. Anwendungsbereiche sind der Gesundheitssektor, autonomes Fahren und die Mensch- Maschine-Kommunikation. Adressiert werden unter anderem rechtliche Fragen, gesellschaftliche Problemstellungen, Transparenz, Erklärbarkeit sowie der Schutz der Privatsphäre. Mehr Infos unter:
KI