Wie viel Empörung verträgt die demokratische Debatte?

Wie schaffen wir es, Wege aus der kollektiven Erregung zu finden? Und wie viel hitzigen Meinungsstreit müssen wir aushalten? Eine Betrachtung.

Nina Schick
Lesedauer: 2 Minuten

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Der Schlag trifft Martin Horn im Moment seines größten Erfolgs. Eine Traube von rund 50 Personen umgibt ihn, noch Stunden nach seinem Wahlsieg stehen die Gratulantinnen und Gratulanten Schlange. Auch ein Mann, der etwas ganz anderes im Sinn hat als Glück zu wünschen, hat, sich eingereiht. Als er dran ist, kracht seine Faust in Horns Gesicht. Der Schlag streckt den neuen Oberbürgermeister von Freiburg nieder, er liegt am Boden, der Mann versucht ihn zu treten. Schnell wird der Angreifer von den Umstehenden überwältigt, doch die Situation ist unübersichtlich. Noch am Boden liegend fürchtet Martin Horn vor allem, seiner Frau könnte auch etwas zustoßen. Sie erwartet in wenigen Tagen ihr zweites Kind und gibt ein paar Schritte weiter ein Interview zum Wahlsieg ihres Mannes. Während Horn im Krankenhaus behandelt wird, rauschen am späten Abend des 6. Mai 2018 die Eilmeldungen durch die Nachrichtenkanäle: Angriff auf Sieger der Oberbürgermeisterwahl in Freiburg. Horn möchte die Aufregung dämpfen, er nimmt ein Video auf: Nase gebrochen, Stiche am Auge, abgebrochener Zahn, „alles sozusagen Pillepalle“. Das Video postet er noch in der Nacht auf Facebook, er kehrt auch auf die Wahlparty zurück, sogar auf die Tanzfläche. „Allerdings mit wenig Vergnügen“, wie er heute sagt.

Einen „Einstieg mit unschöner Überraschung“ nennt Martin Horn seinen Start als parteiloser Oberbürgermeister von Freiburg. Schnell ist klar, dass der Täter psychisch auffällig und polizeibekannt ist. Im März 2020 wird der damals 55 Jahre alte Mann wegen Körperverletzung verurteilt. Das Gericht stellt fest, dass der Mann unter einer psychischen Erkrankung und Wahnvorstellungen leidet. Horn kennt den Mann nicht, es gibt keinen politischen Bezug zu ihm. „Ich war erleichtert, dass der Angriff wenig mit meiner Person zu tun hat“, sagt Horn. „Das ist beruhigend. Andererseits ist gerade das auch beunruhigend: das Wissen, dass so etwas jederzeit aus dem Nichts kommen kann.“ Der Angriff hatte keinen politischen Hintergrund. Er galt aber auch nicht einem beliebigen Passanten.

Er wurde als Kommunalpolitiker angegriffen und steht damit in einer Reihe mit vielen anderen Menschen, die für den Rechtsstaat einstehen – Mandatstragende und Einsatzkräfte – und die Angriffe erleben. Viele der Taten sind politisch motiviert, manche erregen bundesweit Aufsehen. Zahllose Attacken finden jedoch ohne große Öffentlichkeit statt. In einer bundesweiten Umfrage unter 1.641 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern im April 2021 gaben 57 Prozent an, Erfahrungen mit Beleidigungen, Bedrohungen und Übergriffen gemacht zu haben. In Baden-Württemberg waren es sogar 67 Prozent.

Entlang der Paragraphen finden die Menschen Sicherheit und Ordnung. Gesetze und Regeln sorgen für ein gutes Miteinander – und geben den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, angstfrei Kritik am staatlichen Handeln zu äußern.
Rechtsstaat 2.0: Die Digitalisierung verändert auch die Justiz. Sie muss sich modernisieren und Antworten finden auf Phänomene wie Hatespeech und Fake News.

Aus der Stiftung – Gesellschaft & Kultur

(W)ORTE DER DEMOKRATIE

Was ist, wenn Mut bedeutet, das auszusprechen, was man lieber verschwiegen hätte? Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren schrieben über ihre persönlichen (W)Orte der Demokratie. Die 20 Essays wurden zu einem Band zusammengefasst. Denn: „Man muss den Mund aufmachen, nicht den Weg des geringsten Widerstandes gehen.“ Mehr Infos unter:

Worte der Demokratie

Die Mechanismen der Empörungsdemokratie

Es sind eine ganze Menge Menschen, ohne die der Rechtsstaat nicht zu denken wäre: Bürgermeisterinnen und Stadträte, Verwaltungsangestellte, Feuerwehrleute und Rettungskräfte, Richterinnen und Polizisten. Aber auch Menschen ohne Mandat tragen den Rechtsstaat, wenn sie sich in gesellschaftliche Debatten einbringen. Demokratie braucht Menschen, die sich für sie einsetzen und sich beteiligen. Demokratie braucht die Vielfalt der Meinungen, sie muss Streit aushalten können – und auch Empörung. Gewalt aber kann nicht Teil dieses Diskurses sein. 

Doch besteht womöglich ein Zusammenhang zwischen der Gewalt und einer völlig überhitzten öffentlichen Debatte? Was kann der Rechtsstaat Phänomen wie Hatespeech und radikalisiertem Protest entgegensetzen? Und wie lernen wir, miteinander zu reden? Lesen Sie den großen Essay im Magazin.

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EMOTIONEN REGULIEREN LERNEN

Rücksicht nehmen, teilen, streiten und sich vertragen: Wenn die Kleinen im Kindergarten lernen, sich auszudrücken und mit Gefühlen umzugehen, stärkt das ein gutes Miteinander in unserer Gesellschaft. Das Angebot EMIL qualifiziert pädagogische Fachkräfte, im Kindergartenalltag spielerisch Gelegenheiten für soziales Lernen zu schaffen. Mehr Infos unter:

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