Essay

Türe schließen – oder Räume öffnen?

In Zeiten des Unbehagens liegt der wahre Mut darin, nicht nur Risiken, sondern auch das Rettende zu sehen. Nichts steht uns im Weg außer uns selbst.

Tobias Haberl
Lesedauer: 9 Minuten

Ü

Über 30 Jahre ist es her, dass der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausrief: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah es für ein paar Jahre so aus, als habe der Liberalismus über alle Ideologien gesiegt, als hätten sich Demokratie und Marktwirtschaft durchgesetzt und würden die Erde nach und nach zu einem Ort des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands machen.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist klar: Der Mann hat sich geirrt. Wir leben in einer Zeit des Unbehagens, die Welt scheint aus den Fugen: Klimakrise, rechter Terrorismus, linke Randale, islamistische Anschläge, antisemitische Übergriffe, digitale Überwachung, weltweite Flüchtlingsströme und jetzt auch noch die Corona-Pandemie. Obwohl die Welt mit der Abwahl Donald Trumps als US-Präsident ein Problem weniger hat, werden unsere freiheitlichen Werte weiter auf die Probe gestellt werden, weil die Konflikte unserer Zeit fast alle aus Fehlern resultieren, die in der Vergangenheit liegen, sei es der Kolonialismus mit seinen außen- und migrationspolitischen Folgen oder der immer wieder aufgeschobene Kampf gegen die Klimakrise.

Erinnert sich eigentlich noch jemand an die Spaßgesellschaft der Neunziger Jahre? Damals ging die Angst um, dass wir vor lauter Wohlstand und Sicherheit zu vergnügungssüchtigen Egoistinnen und Egoisten werden, dass wir uns „zu Tode amüsieren“. Vor zu viel Hedonismus muss sich heute niemand mehr fürchten. Und Jugendliche treffen sich schon lange nicht mehr zum Komasaufen, sondern um gegen die Klimakrise zu demonstrieren.

Und das ist die positive Nachricht in dem Schlamassel: Wenn Menschen an eine Grenze gelangen, stehen die Zeichen günstig für neue Erkenntnisse. Auf einmal sieht man die Dinge klar wie lange nicht: welche Chancen vertan, welche Fehler gemacht, welche Entscheidungen hinausgezögert wurden – aber vor allem: was nun zu tun ist. Wenn dann noch der Mut dazukommt, die neuen Erkenntnisse auch umzusetzen, ist es zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Dinge nachher besser sein werden, als sie vorher je waren.

Mut – das sagt sich so leicht, was für ein unscheinbares Wörtchen. „Sei doch mal mutig“, ist ein Satz, den man oft hört. Er beinhaltet die Aufforderung, das Risiko einzugehen, Dinge anders als sonst zu machen, das Terrain, auf dem man sich sicher fühlt, zu verlassen, um neue Erfahrungen zuzulassen. Auf die Politik bezogen war die Idee eines vereinten Europas so ein mutiger Entschluss: Im Jahr 1952 entstand die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, um in einem von Misstrauen geprägten Klima für Frieden und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu sorgen. Frankreich und Deutschland sollten nach zwei verheerenden Weltkriegen ein starkes Europa aufbauen – ein Bollwerk freiheitlich-demokratischer Werte; zum ersten Mal gaben Nationalstaaten einen Teil ihrer Souveränität an eine supranationale Organisation ab. „Alles Große ist ein Wagnis“, sagte damals Bundeskanzler Konrad Adenauer. „Auch die Gründung eines neuen Europas ist kein risikofreies Unternehmen.“

Zukunft lässt sich nicht aufhalten

In den kommenden Jahren stehen wir vor der Aufgabe, eine Transformation noch größeren Ausmaßes zu organisieren, um eine zunehmend polarisierte Gesellschaft wieder auf die richtige Spur zu setzen. Die meisten Menschen aber tun sich schwer mit Veränderungen. Sie scheuen das Risiko und wollen, dass die Dinge morgen einigermaßen so sein werden, wie sie gestern noch waren. Es ist diese Haltung, die jetzt nicht mehr funktioniert. 

Wir haben uns in zu viele Widersprüche verstrickt: Die einen wollen mehr Sicherheit, die anderen mehr Freiheit, die einen mehr Wachstum, die anderen mehr Klimaschutz. Um all diese Forderungen harmonisch auszutarieren, sind wir gezwungen, in eine Welt aufzubrechen, die ganz anders ist als die, die wir heute kennen. Als Gesellschaft werden wir den Mut aufbringen müssen, anzuerkennen, dass wir vor einem tiefgreifenden Wandel stehen, der gerade erst begonnen hat.  

Wir sehen deutlich wie lange nicht, dass unsere Demokratie nicht selbstverständlich ist, sondern permanent verteidigt und modifiziert werden muss, ja überhaupt, dass sich die vergangenen Jahrzehnte des Friedens nicht automatisch fortsetzen, sondern dass Frieden immer wieder neu erkämpft werden muss. Schon möglich, dass wir nach Jahrzehnten des Wohlstands bequem geworden sind und angesichts der nötigen Veränderungen Angst bekommen, aber Mut und Angst stehen in keinem Widerspruchs-, sondern in einem Spannungsverhältnis. Sie schließen sich nicht aus, sie ergänzen einander. Mut hat viele Facetten: Entschlossenheit, Selbstlosigkeit, Zivilcourage, Durchhaltevermögen, Charakterstärke, Tapferkeit, Emanzipation – brauchen werden wir sie alle.

„Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch“, schrieb Hölderlin vor 200 Jahren. Gerade in Zeiten der Unsicherheit tun sich mehr Menschen als sonst zusammen, um die Welt besser zu machen. Seit Monaten vergeht kein Tag, an dem man nicht von Menschen hört, die in Belarus (gegen den Diktator Lukaschenko), in Hongkong (gegen die Repressionen Chinas), in Russland (gegen die Verurteilung des Kremlkritikers Alexey Nawalny) oder in Myanmar (gegen die Machtergreifung der Militärjunta) auf die Straße gehen, um – teils unter Einsatz ihres Lebens – für eine gerechtere Welt einzustehen; genau wie die Menschen in der ehemaligen DDR, die vor über 30 Jahren die Berliner Mauer mit einer friedlichen Revolution zu Fall brachten. Mutig sind vor allem die Menschen, die etwas zu verlieren haben. Während sie in einer scheinbar aussichtslosen Situation über sich hinauswachsen, ziehen sich andere verbittert zurück, sehnen sich nach der „guten alten Zeit“ – die es so nie gegeben hat –, weil sie sich eine homogene Welt der Kontrolle wünschen, in der möglichst wenig Fremdes und Unberechenbares auftaucht. Während die einen Räume öffnen wollen, schließen die anderen Türen. 

Großbritannien entschied sich für den Brexit, Ungarn und Polen wollen in der EU vor allem Rechte und weniger Pflichten wahrnehmen. Die USA, Russland, die EU, China – unser Planet ist in Blöcke geteilt, die sich argwöhnisch gegenüberstehen. Etliche Staatsmänner haben der Vielfalt den Kampf angesagt. Anstatt sich in die internationale Staatengemeinschaft einzugliedern und die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam anzugehen, tun sie so, als ließe sich in einer globalisierten Welt Ordnung herstellen, wenn jeder konsequent seine eigenen Interessen verfolgt – und vor allem anderen die Augen verschließt. Dabei lässt die Zukunft sich nicht aufhalten. Sie kommt, ob wir wollen oder nicht. Und deswegen ist es besser, sich darauf vorzubereiten, als zu meinen, man könnte sie absagen wie einen lästigen Zahnarzttermin. 

Vielleicht sind wir gerade dabei, einen Probelauf für gewaltigere Herausforderungen zu absolvieren, die nicht auf nationaler Ebene, sondern nur von der Weltgemein­schaft bewältigt werden können.

Kein Verlust ohne Gewinn

„Ich glaube nicht nur an Europa, ich bin davon überzeugt, dass ein vereintes Europa – nennen Sie es ruhig die Vereinten Staaten von Europa – unsere einzige Möglichkeit ist, nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, weil jede einzelne Nation viel zu schwach ist, sich im Konzert der internationalen, teils autoritären Mächte Gehör zu verschaffen“, sagt der aus den Niederlanden stammende und in Genua lebende Bestsellerautor Ilja Leonard Pfeijffer. 

Zum Weltbürger sei er durch die Literatur geworden. Kunst und Kultur können dabei helfen, dass Menschen aus unterschiedlichsten Weltgegenden sich verstehen und ihre Gemeinsamkeiten und ihr Aufeinander-angewiesen-Sein erkennen. Als Corona ausgebrochen sei, habe er zusammen mit zwei anderen Schriftstellern einem Journalisten ein Skype-Interview gegeben. „Einer von ihnen lebt in Rio de Janeiro und flehte mich regelrecht an, wir dürften nicht aufgeben, wir müssten auf unserem Weg der Tugend bleiben, Europa sei die letzte Hoffnung, das letzte Beispiel einer funktionierenden Demokratie. Er hatte fast Tränen in den Augen.“ Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich Europa erneuern muss, soll es nicht wieder in Einzelinteressen zerfallen. 

Es war das Coronavirus, das uns für ein paar Monate gezeigt hat, wie eine Welt aussehen könnte, in der die einzelnen Staaten und in der auch viele Menschen getrennt voneinander existieren müssten: Auf einmal nämlich konnte man nicht mehr nach Österreich, Frankreich oder Italien fahren, zumindest nicht einfach so; auf einmal waren die Grenzen geschlossen, die Schlagbäume unten, das Unterwegssein war ein komplizierter bürokratischer Akt. Auf einmal hockten alle zu Hause und merkten vielleicht zum ersten Mal, was so ein Leben eigentlich ausmacht, wenn es nicht nur ablaufen soll wie ein Computerprogramm. 

„Es gibt keinen Gewinn ohne Verlust und keinen Verlust ohne Gewinn“, hat die ungarische Philosophin Agnes Heller wenige Jahre vor ihrem Tod in einem Interview gesagt. Diese Coronakrise ist ein immenser Verlust und eine weltweite Tragödie, aber sie gibt uns auch die Möglichkeit, die Herausforderungen unserer Zeit präziser zu erkennen und dann: beherzt anzugehen. Um mutig sein zu können, braucht es eine Situation, in der Mut entstehen kann. Das Resultat ist nicht selten Fortschritt – technischer, aber auch sozialer, zivilisatorischer, menschlicher.  

Denn wie hat sich unser Leben angefühlt in den Wochen des Lockdowns? Wie war es, unsere Freunde und Verwandten nicht treffen zu dürfen, nicht berührt, umarmt, geküsst zu werden? Wie war es, vor einem Computerbildschirm zu sitzen, um endlich mal wieder in die Augen des Vaters, der Großmutter, des besten Freundes sehen zu können? Man konnte eine Ahnung davon bekommen, wie trostlos unser Leben abliefe, wenn wir nicht mehr in andere Länder reisen und die Erfahrung der Fremde machen könnten; wie ereignislos und gefährlich selbstbezogen, wenn wir durch den permanenten Rückzug ins Private auf Geselligkeit verzichten müssten; wie seelenlos, wenn unser Alltag nur noch funktionieren, aber nicht mehr strahlen würde. 

Ungeahnter Zivilisierungsschub

Denn das ist der eigentliche Schock dieser Pandemie, dass wir mit einer Wahrheit konfrontiert werden, die wir so lange erfolgreich verdrängt haben: Unsere Zivilisation ist gefährdet, unser Glück brüchig, unsere Spezies verwundbar. Dieses Virus hat uns daran erinnert, dass wir sterbliche Wesen sind. Es hat uns gezeigt, dass unsere Art zu leben keine Selbstverständlichkeit ist, sondern immer wieder neu verteidigt werden muss. Die meisten Menschen, die heute in Europa oder Nordamerika leben, sind nach 1945 geboren. Fast keiner von ihnen hat Hunger, Kälte, Bombennächte erlebt. Bis vor ein paar Jahren kannten – abgesehen von konjunkturellen Schwankungen, vorübergehenden Rückschlägen und individuellen Pechsträhnen – viele nur eine Richtung: nach oben, in den Wohlstand, auch wenn dieser immer ungleicher verteilt ist. Nun haben viele verstanden, dass eine Katastrophe etwas anderes ist als ein Hotelzimmer ohne WLAN.  

Das Pendel des Lebens ist kraftvoll zurückgeschwungen. Gleichzeitig erleben wir – und das ist die positive Botschaft dieser Belastungsprobe –, wie unsere Solidarität und unsere Opferbereitschaft gestiegen sind, wie uns gelungen ist, was uns im beschleunigten Alltag so schwerfällt: eine andere Perspektive auf unser Dasein einzunehmen. Staaten haben sich abgestimmt, Forscherinnen und Forscher haben über Grenzen hinweg Daten und Krankenhäuser Patientinnen und Patienten ausgetauscht. Man kann schon sagen, dass sich – von fragwürdigen Ausnahmen abgesehen – ein Zivilisierungsschub eingestellt hat: politisch, weil die Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten so hilflos erschienen; wirtschaftlich, weil Brauereien auf einmal Desinfektionsmittel abfüllten; zwischenmenschlich, weil viele Rücksicht auf Menschen genommen haben, die sie kurz zuvor gar nicht gekannt hatten, indem sie Abstandsregeln einhielten, die ihnen zwei Wochen zuvor lächerlich vorgekommen wären. Wie schwierig es ist, diese Solidarität durchzuhalten, wurde aber auch deutlich, als sich die Staaten bei der Impfstoffverteilung in die Quere kamen. Im Winter nämlich war es schon wieder vorbei mit den Gemeinsamkeiten, stattdessen wurde gestritten, gefeilscht, beschuldigt. Der Impfwettlauf hat das Zeug, auch die globalen Machtverhältnisse weiter zu verschieben, zugunsten von China und Russland, die sich mit ihren Impfstoffen weltweit – vor allem in ärmeren Ländern – Einfluss sichern. 

Mut und Veränderungswille

Dieses Virus hat uns eine Ahnung davon vermittelt, dass nichts so sein muss, wie es ist; dass – abgesehen von unseren demokratischen Grundwerten und unserem Grundgesetz – nichts alternativlos oder nicht verhandelbar ist. Gerade durch die Demonstration unserer Verwundbarkeit haben wir ein Gefühl dafür bekommen, wofür es sich zu kämpfen lohnt und was in uns stecken könnte, wenn es drauf ankommt: wie viel Mut, Kreativität und Opferbereitschaft, wie viel Flexibilität und Veränderungswille. Es sind dies Eigenschaften, die überlebenswichtig sind, wenn es darum geht, den Klimawandel nachhaltig aufzuhalten. 

Die wesentlichen Charakteristika der Coronakrise lassen sich nämlich auf die globale Klimakrise übertragen, findet der Klimaforscher John Schellnhuber: „die unerbittliche Gültigkeit der Naturgesetze; die kritische Bedeutung der Rechtzeitigkeit; die gelegentliche Notwendigkeit, alle Waffen, die man besitzt, ins Feld zu führen; die Bereitschaft, das Leben über das Geld zu stellen“. Vielleicht sind wir gerade dabei, einen Probelauf für gewaltigere Herausforderungen zu absolvieren, die nicht auf nationaler Ebene, sondern nur von der Weltgemeinschaft bewältigt werden können. 

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts giltmehr denn je: Die Menschen und Staaten sind nicht nur ökonomisch voneinander abhängig, sie sind auch zum Guten miteinander verbunden. Vielleicht braucht es beides, die Skepsis und den Fortschrittsglauben, um es mit den globalen Problemen aufnehmen zu können, denn eines ist klar: Wer Vielfalt will, muss gesprächsbereit bleiben und Widersprüchlichkeit aushalten können, ja mehr noch, sie als Chance begreifen. 

Aus der Stiftung – Gesellschaft &  Kultur

LE PROJET FRANCO­ALLEMAND

Neue Räume öffnen – mit Musik! Die Baden­Württemberg Stiftung fördert ein Projekt des Balthasar­-Neumann­-Ensembles unter Leitung von Thomas Hengelbrock. Das Orchester wurde von der französischen Regierung eingeladen, eine künstlerische Residenz im Château de Fon­tainebleau anzutreten. Das Ziel: die Zusammen­arbeit von Jugendlichen zu stärken – und damit den europäischen Gedanken. Mehr Infos unter:

www.bwstiftung.de/de/projet­franco­allemand