Essay

Stärke zeigen – oder Schwäche zulassen?

Wer etwas riskiert, der weiß, dass auch die Option des Scheiterns mitspielt. Über den Mut zur Demut oder wie aus Verwundbarkeit Solidarität entstehen kann.

Tobias Haberl
Lesedauer: 8 Minuten

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Der große französische Schauspieler Fernandel hat mal gesagt: „Wer zugibt, dass er feige ist, hat Mut.“ Mut kann heißen, dass man etwas tut, obwohl man Angst davor hat; aber auch, dass man etwas nicht tut, weil man es als falsch, zu riskant oder nicht zielführend erkannt hat. Mut treibt an, Angst bremst aus, erst wenn beide zusammenspielen und harmonisch austariert werden, entsteht verantwortungsvolles Handeln. Anders ausgedrückt: Ein Held oder eine Heldin darf Angst haben, es kommt darauf an, wie er oder sie mit ihr umgeht. Mut zur Angst heißt sogar der Titel eines Buches der Ärztin und US-Bestsellerautorin Lissa Rankin. Untertitel: Wie wir uns durch das, was wir fürchten, heilen können. 

Mut kennt viele Bedeutungen. Schon das althochdeutsche Wort muot kann je nach Kontext mit Sinn, Seele, Geist oder Gemüt übersetzt werden. Im Hochmittelalter wird der Mut im Minnesang als hôher muot mit Hochherzigkeit, Edelmut und Uneigennützigkeit gleichgesetzt. Wer Gefahr nicht (an-)erkennt, ist nicht mutig, sondern töricht, unter Umständen verantwortungslos. Echter Mut ist eine Frage der Haltung, des Charakters und der Weitsicht, indem er möglichst viele Eventualitäten sowie die Konsequenzen des eigenen Handelns miteinbezieht. Gedeihen kann er nur da, wo er auf ein gesundes Maß an Selbsteinschätzung trifft. Wird er zum Hoch- oder Übermut, büßt er seine Kraft ein, ja wird unter Umständen – wie bei Donald Trump, der sein Amt mit sich selbst verwechselt hat – pathologisch. Weil er sich weigerte, seine Wahlniederlage anzuerkennen und verzweifelt versuchte, ein abgeschlossenes demokratisches Verfahren nachträglich in den Schmutz zu ziehen, brachte er das ins Wanken, was in der Politikwissenschaft als das „Wunderwerk der Demokratie“ bezeichnet wird: die friedliche Übertragung von Macht, die nur möglich ist, weil alle politischen Kräfte die Abstimmungsergebnisse akzeptieren. Dass am Nachmittag des 6. Januar ein gewaltbereiter Mob, motiviert von Trump, das Kapitol in Washington stürmen würde, das hätte man niemals für möglich gehalten. Es war die unrühmliche Fortsetzung einer Reihe von Störfällen und Gewalttaten, denen sich längst auch Repräsentantinnen und Repräsentanten unseres Staates ausgesetzt sahen: Im Sommer 2020 beschimpften von der AfD in den Reichstag geladene Provokateure mehrere Abgeordnete. 2019 war es nicht bei Worten geblieben: Der CDU-Politiker und Regierungspräsident von Kassel Walter Lübcke wurde für sein Engagement in der Flüchtlingskrise auf der Terrasse seines Hauses von einem Rechtsextremisten erschossen. Es sind dies die Folgen einer Enthemmung, die von rechten Populistinnen und Populisten in Kauf genommen und gelegentlich sogar befeuert werden. 

Dieser Hetze gegen Andersdenkende, dieser politischen Arroganz, gezielten Provokation und Polarisierung steht der Führungsstil Angela Merkels gegenüber: zurückhaltend, tastend, dienend. Die deutsche Bundeskanzlerin hat jahrelang vorgemacht, dass eine Portion Demut nicht schadet, wenn man Entscheidungen zu treffen hat, die Millionen von Menschen betreffen. „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen“, sagte auch Gesundheitsminister Jens Spahn im Frühjahr 2020 während der ersten Coronawelle. Ein ungewöhnlich mutiger Satz für einen Politiker. Warum? Weil Spahn damit suggeriert, dass die Regierung und auch er selbst die Bürgerinnen und Bürger nicht fehlerlos, also nicht ohne Irrtümer und Fehleinschätzungen, durch diese Pandemie steuern können werde. Indem er die eigene Fehlerhaftigkeit als Möglichkeit einräumt, beweist er Stärke, aus der Vertrauen erwachsen kann. 

Götterdämmerung des Menschen

Wie Mut und Demut sich nicht ausschließen, sondern wechselseitig verstärken, das hat Corona uns allen vor Augen geführt. Los ging es damit, dass wir im Frühling 2020 ordentlich eins auf den Deckel bekommen haben: Während im Silicon Valley an der Unsterblichkeit des Menschen geforscht wurde, indem Gehirne tiefgefroren oder als Datensatz in einer Cloud gespeichert wurden, erstickten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser Tausende von Menschen, die zwei Wochen vorher noch Geburtstag gefeiert oder Urlaubspläne für den Sommer gemacht hatten. In den Nachrichten sahen wir Bilder von Patientinnen und Patienten an Beatmungsmaschinen und Ärztinnen und Ärzten in Ganzkörperschutzanzügen und waren – man kann es nicht anders sagen: geschockt. Die Erfahrung,  dass da etwas ist, das sich unserer Kontrolle entzieht, hat uns fassungslos gemacht, weil wir es als aufgeklärte Menschen des 21. Jahrhunderts nicht gewohnt sind, wenn Dinge außerhalb unserer Verfügbarkeit liegen. Die Folge war ein Gefühl der Ohnmacht. Die Menschen hatten Angst. Manche zogen sich zurück und wurden leise, andere gingen auf die Straße und wurden laut, wieder andere behaupteten einen Tick zu deutlich, überhaupt keine Angst zu haben, alle zusammen litten unter Isolation und fehlender Geselligkeit – ohne Zweifel wurden viele von uns zumindest daran erinnert, dass es so etwas wie Demut überhaupt gibt. 

Seit der Aufklärung hat sich der westliche Mensch immer weiter von Fesseln gelöst. Erst hat er sich vom Einfluss der Kirche, dann von bürgerlichen Konventionen befreit, ist rationaler, unabhängiger, autonomer geworden. Doch der von Immanuel Kant propagierte Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit ist erst Wirklichkeit geworden und dann: außer Kontrolle geraten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir uns in einem Hyperindividualismus, ja in einer Art prometheischer Ich-Sucht verheddert. Zwar vernetzen sich alle, aber oft halt nur, um ein paar Vorteile für sich rausschlagen zu können und die eigene Agenda voranzutreiben. „Unterm Strich zähl ich“, lautete ein Slogan der Postbank. Der Glaube, dass das eigene Schicksal in den Händen eines gnädigen Gottes liegt, verflüchtigte sich in dem Maße, in dem der westliche Mensch sich aufmachte, sein eigener Gott zu werden – denn worum geht es in den sozialen Netzwerken anderes als sich als unverwechselbar zu inszenieren und irgendwie auch: verehren zu lassen? Wenn wir ehrlich sind, reden, denken, fühlen und fordern wir meistens in der ersten Person. Homo Deus heißt ein Bestseller des israelischen Historikers Yuval Noah Harari – der Mensch als Gott. Und dann sprang dieses Virus auf einmal von Kontinent zu Kontinent und von Mensch zu Mensch, und wir beginnen zu ahnen, dass es mit der eigenen Gottwerdung noch eine Weile dauern wird. 

Der Soziologe Zygmunt Bauman hat das Problem unserer Zeit schon vor Jahren erkannt: „Die Gefahr ist, dass das Muster von Beziehungen so wird wie das Verhältnis zu einem Gebrauchsgegenstand. Es ist wie bei der Barbiepuppe. Kommt die neue Version auf den Markt, tauscht man die alte gegen diese aus.“ Seine Befürchtung hat sich bewahrheitet: Es ist dieses jederzeit modifizierbare Handeln, das auf dem globalen Markt der unendlichen Möglichkeiten die größten Erfolgschancen verspricht. Wir ahnen erst allmählich, dass wir für unsere Freiheit und Unverbindlichkeit einen Preis zahlen müssen, ja dass unsere Überzeugung, dauerhafte Bindungen stünden unserem Glück im Wege, falsch ist, weil sie eine Spaltung der Gesellschaft begünstigt, in der sich jeder selbst der Nächste ist. 

Der Übergang zum effektiven Wir

Natürlich wird auf sämtlichen Internetplattformen ständig ein Wir-Gefühl beschworen – Je suis Charlie, MeToo, Black Lives Matter; natürlich werden Millionen lieb gemeinter Slogans gepostet, um für Vielfalt und Gleichberechtigung zu werben, das ändert aber nichts daran, dass die sozialen Netzwerke viele Menschen auch zu Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfern gemacht haben. Und jetzt zeigt uns dieses Virus, wie schwach und hilflos wir ohne die anderen sind, wie wenig jede und jeder Einzelne ausrichten kann, wenn es drauf ankommt, und wie sehr wir einander brauchen. Gleichzeitig war es diese Erfahrung der Verwundbarkeit, die eine neue Solidarität entstehen ließ. Im Moment der Gefahr zeigte sich der überwiegende Teil der Gesellschaft bereit, die epochale Herausforderung anzunehmen und ihr Opferbereitschaft und Zusammenhalt entgegenzusetzen. In Krisenzeiten scheinen viele Menschen tatsächlich bereit zu sein, sich altruistisch zu verhalten, also Im Grunde gut zu sein, wie ein Buch des niederländischen Bestsellerautors Rutger Bregmans aus dem Jahr 2020 heißt. 

Die eigene Begrenztheit anzuerkennen, ist elementar, wenn es darum geht, eine Krise zu meistern, weil jegliche Allmachtsfantasien den Blick für das versperren, was nötig ist. Wie ein Bergsteiger sich mental dem Berg fügen muss, um ihn körperlich bezwingen zu können, müssen wir als Gesellschaft zwei Strategien miteinander in Einklang bringen: das Menschenmögliche tun und gleichzeitig die Hoffnung nie aufgeben, dass uns von irgendwoher Hilfe zuwächst. Im Moment erweist sich unsere Strategie des diplomatischen Tastens als zumindest nicht falsch: Schwäche anerkennen, um pragmatische Lösungen finden zu können, statt so zu tun, als könne man eine Pandemie mal eben in den Griff bekommen. Wie Bakterien unter einem Mikroskop traten in den vergangenen Monaten die Schwächen und auch die Stärken unseres politischen Systems und unseres Zusammenlebens zutage. Auf der einen Seite waren wir auf eine solche Ausnahmesituation nicht vorbereitet: Erst fehlten Masken, dann wurde der Mangel an digitaler Infrastruktur an vielen Schulen sichtbar, später gab es zu wenige geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um die Menschen in den Alten- und Pflegeheimen durchzuimpfen. Auf der anderen Seite wurden milliardenschwere Hilfspakete geschnürt, in Rekordzeit Impfstoffe entwickelt und – nach Startschwierigkeiten – auch tatsächlich eingesetzt. Nach einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken gaben 78 Prozent der Befragten an, dass sich die soziale Marktwirtschaft im Coronajahr als Wirtschaftsordnung bewährt habe. Trotzdem blicken viele Menschen neidisch auf China, nach dem Motto: Die haben das aber besser hingekriegt. Was sie vergessen, daran hat die Schriftstellerin Thea Dorn erinnert: „Ich bin heilfroh, dass unser Staat nicht die Mittel hat, die Lockdown-Maßnahmen lückenlos zu überwachen.“ 

Der Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Schäuble äußerte im Laufe dieser Pandemie einen großen Satz: „Wenn wir Regulierungen übertreiben, landen wir in der Diktatur. Wenn wir es mit den Freiheiten übertreiben, dann zerstört die Freiheit sich selber. Auch wenn wir irgendwann einen Impfstoff haben: Es wird nicht so weitergehen können, wie es vor Corona war. Und deswegen müssen wir schon jetzt an Veränderungen arbeiten.“ Es ist dies ein Manifest der Mitte und der Vernunft, ein Plädoyer für das Maßhalten, damit unser Mut nie zur Mutlosigkeit, aber auch nie zum Übermut wird. Das sind die Pole, zwischen denen wir uns als Gesellschaft bewegen müssen: voller Zuversicht, aber nicht naiv, voller Mut, aber nicht kopflos, voller Selbstbewusstsein, aber nicht selbstbezogen, voller Tatendrang, aber nicht übermütig. Hier stimmt er wirklich, der viel zitierte Kalenderspruch: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ 

Der Soziologe Heinz Bude immerhin meint in dieser Pandemie bereits einen „Übergang von einem starken Ich zum schwachen Ich“ zu erkennen, das wiederum den Beginn eines „effektiven Wir“ einläuten könnte. Nur weil wir aufgeklärte Menschen seien und kollektive Unglücksfälle nicht mehr auf eine Strafe Gottes zurückführten, schrieb der Kulturkritiker Edo Reents in der FAZ, schließe das noch lange nicht aus, dass diese Pandemie ein Anlass dafür sein könne, über so etwas wie Schuld nachzudenken, und wenn das zu moralisierend sei: dann eben über Versäumnisse. Und über Handlungsbedarf. 

Fehler sind erlaubt

Zum Beispiel könnten wir unser Gesundheits- und Pflegesystem auf Menschen und nicht auf Gewinnmaximierung abstimmen, die soziale Verantwortung von Unternehmen steigern oder überhaupt erkennen, dass die Relevanz von Unternehmen nicht notwendigerweise mit ihrem Börsenwert zu tun hat und der technologische Fortschritt uns unterstützen und nicht manipulieren oder abhängig machen soll. Es sind dies Großbaustellen, auf denen wir bislang zu zaghaft zu Werke gegangen sind, weil uns die Entschlossenheit gefehlt hat, mit unhinterfragten Gewohnheiten zu brechen. Vielleicht verleiht uns ja die Erfahrung der letzten Monate die Kraft, beherzter vorzugehen. Der neue Siemens-Chef Roland Busch hat es vorgemacht: Nachdem ihm Investmentbankerinnen und -banker vor seinem Amtsantritt vorgerechnet hatten, mit welcher Strategie der Aktienkurs nach oben getrieben werden könne, sagte er: „Wir haben nicht nur die Börse im Blick, sondern auch die Interessen von Mitarbeitern, Kunden, Gesellschaft und Umwelt.“ Jetzt muss er nur noch beweisen, dass er es ernst meint. 

Mut ist das Fundament für gesellschaftlichen Fortschritt, weil er dabei hilft, vertraute Denkmuster, lieb gewordene Gewohnheiten und scheinbar gut funktionierende Strukturen auf den Prüfstand zu stellen. Vielleicht müssen wir uns in einem ersten Schritt von unserem Perfektionismus verabschieden. Lieber kleine Schritte in die richtige Richtung als gar nicht losgehen, weil uns der Weg zu anstrengend, zu riskant, zu gefährlich erscheint. Fehler sind erlaubt, auch das hat die Pandemie gezeigt. Die Virologinnen und Virologen haben sich geirrt, sich widersprochen und sich korrigiert. Das ist das Wesen wissenschaftlichen Arbeitens. Fehlbarkeit gehört nicht nur zum Menschen, sondern auch zu einer freiheitlichen Kultur. Wer sich eingesteht, dass eine fehlerlose Gesellschaft nicht möglich ist, kann damit beginnen, sie jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Es geht um Annäherung, nicht um sofortigen Vollzug. Wenn die Dinge anders laufen als geplant, kommt die menschliche Fantasie erst in Gang. Wenn wir uns von der permanenten Fremd- und Selbstoptimierung verabschieden, geraten die Dinge in den Blick, die möglich und notwendig sind. 

Aus der Stiftung – Gesellschaft & Kultur

LÄUFT BEI DIR!

Werte. Wissen. Weiterkommen. Das Programm stärkt Jugendliche am Übergang zwischen Schule und Beruf. Auszubildende und Berufsschülerinnen und ­schüler erleben in kreativen Seminaren und Trainings, wie wir im gesellschaftlichen Miteinander mit Konflikten umgehen, auf welches Wertefun­dament unsere Demokratie gebaut ist – und wie wir sie mutig verteidigen können. Mehr Infos unter:

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