Reportage
Die Entdeckung einer unbekannten Welt

Auf der Schwäbischen Alb beflügelt der legendäre Blautopf Fantasie und Forscherdrang. Nur wenigen Menschen ist es gestattet, dort hinabzutauchen – in eine geheimnisvolle unterirdische Welt, die zu großen Teilen noch unerforscht ist.

Nora Chin
Lesedauer: 4 Minuten

Wasserort Blautopf
I

In allen Blautönen funkelt dieser See am Rande eines alten Benediktinerklosters in Blaubeuren: Der Blautopf mit seiner besonders intensiven Färbung zieht die Menschen seit jeher in seinen Bann, er inspirierte sie zu zahlreichen Legenden. Lange erzählte man sich zum Beispiel, das intensive Blau rühre daher, dass täglich ein Fass Tinte in den Quellkessel hineingeschüttet wird. Heute weiß man, dass Kalkpartikel im Wasser für das Phänomen verantwortlich sind, weil sie das Licht in einer besonderen Weise brechen. Das wahre Wunder des Blautopfs aber verbirgt sich weit unter der Wasseroberfläche.

 

Auf dem Grund des Karstsees, in rund 20 Meter Tiefe, befindet sich eine schmale Felsspalte, nur 1,40 Meter breit. Der Einstieg in eine für den Menschen verborgene Welt – zumindest bis Jochen Hasenmayer, einer der ersten Höhlentaucher überhaupt, diesen unbekannten Ort zu erforschen beginnt. Es sind die 1960er-Jahre, technisches Equipment ist noch Zukunftsmusik. Für seinen ersten Tauchgang am Blautopf baut sich Hasenmayer einen primitiven Tauchanzug aus Bettlaken, isoliert mit Fahrradflickzeug. Auch sein Atemgerät bastelt der Pforzheimer selbst zusammen: aus einem kleinen Sack und einer Pressluftflasche. Seine Ausrüstung professionalisiert der Abenteurer erst Stück für Stück.

 

Es sollte zwei Jahrzehnte dauern, bis Hasenmayer nach einem mehrstündigen Tauchgang eine Stelle im Höhlensystem findet, an der er auftauchen kann. Eine Leistung, die Fachleute mit der Erstbesteigung des Nanga Parbat vergleichen – und die im November 1985 mit einem märchenhaften Anblick belohnt wird. Im Lichtstrahl seiner Lampe erblickt der Autodidakt einen gigantischen Höhlendom: eine riesige Halle, 120 Meter lang und 30 Meter hoch, die Wände übersät mit Stalagmiten und Stalaktiten. Er benennt ihn nach dem schwäbischen Dichter Eduard Mörike, der den Blautopf mit der Legende um eine schöne Wassernixe berühmt gemacht hatte.

Der Blautopf ist der Eingang zu einem weit verzweigten Höhlensystem.
Unter Wasser warten spektakuläre Perspektiven wie der Blick auf den Tropfsteinwald.

Lebensgefahr Höhlentauchen

 

Erst mehrere Jahre nach der Entdeckung des Mörikedoms beginnt die Arbeitsgemeinschaft Blautopf, ein Team aus Tauchern und Forschenden, das spektakuläre Höhlensystem immer weiter zu erkunden. Sie finden Tunnel, Kathedralen, große Hallen und winzige Engpässe, die das Regenwasser in Millionen Jahren ausgewaschen hat. Wie groß das gesamte Blauhöhlensystem ist, weiß bis heute aber niemand ganz genau. Noch immer machen Taucher eine aufregende Entdeckung nach der anderen.

 

Einer von ihnen ist Andreas Kücha, der heute zu Deutschlands erfahrensten Höhlentauchern zählt. Als einer der wenigen darf er im Blautopf tauchen. Bis zu 20-mal im Jahr steigt er ab in die Tiefe der Blauhöhle. Auf so einen Tauchgang müsse man sich tagelang vorbereiten, erzählt der 55-Jährige – vor allem emotional. Dunkel, nass und kalt ist es dort unten. Zudem ist das Unterfangen äußerst gefährlich. Einige Taucher haben hier schon ihr Leben gelassen. Kücha, der eigentlich Schreiner ist und seit seiner Jugend fast jede freie Minute der Erforschung von Höhlen auf der ganzen Welt widmet, erklärt: „Wenn man in einem See taucht, kann man bei einem Problem sofort an die Oberfläche kommen. In einer Höhle geht das nicht.“ Niedrige Decken verhindern ein schnelles Auftauchen.

 

Auch aufgewirbelte Sedimente machen die Tauchgänge immer wieder zur Nervenprobe, wie der gebürtige Giengener berichtet: „Wenn man einen Flossenschlag in den Schlamm setzt, sieht man die Hand vor Augen nicht mehr.“ Zudem müssen die Taucherinnen und Taucher aufgrund der Beschaffenheit des komplizierten Höhlensystems ständig auf- und wieder abtauchen. Den wechselnden Druck müssen sie permanent ausgleichen, nur so verhindern sie eine gefährliche oder gar tödliche Gasanreicherung im Blut. Statistisch gesehen ist das Höhlentauchen 130-mal gefährlicher als das Sporttauchen.


Das Leben der Taucher hängt von jahrelanger Erfahrung ab – und von ihrer Ausstattung. Zu den Sicherheitsstandards gehören eine Führungsleine, die im Notfall immer den Weg zurück in den Blautopf weist, Schutzhelme, zwei getrennte Atemsysteme, Ersatzflaschen und mehrere Lichtquellen. Zusammen mit der Film- und Fotoausrüstung wiegt das Equipment weit über hundert Kilo. Um damit mehrere Kilometer unter Wasser zurücklegen zu können, sind Kücha und seine Kollegen auf modernste Technik angewiesen: Mit einem Scooter, einer Art motorisiertem Schlitten, lassen sie sich durchs Wasser ziehen. „Das ist die Raumfahrt des kleinen Mannes“, sagt Kücha und lacht.

Einzig erfahrenen Höhlenforscherinnen und -forschern ist der Einstieg in den Blaucanyon
gestattet.
Auch die Fahrt durchs „Mittelschiff“ ist nur erfahrenen Höhlenforscherinnen und -forschern erlaubt.

Legendäre Pionierleistungen

 

All das verdeutlicht, wie groß die Pionierleistung von Jochen Hasenmayer war, der am Blautopf Tauchgeschichte geschrieben hat. Im Jahr 1989 bremst ein Tauchunfall Hasenmayers Forschungen zunächst aus: Weil ein defektes Messgerät eine falsche Tiefe anzeigt, taucht er im Wolfgangsee zu schnell auf. Seitdem ist der heute 82-Jährige querschnittsgelähmt. Das Höhlentauchen gibt Hasenmayer deswegen aber nicht auf. Mit seinem Speleonaut, einem eigens entwickelten Mini-U-Boot, erforscht er weiterhin die Blautopfhöhlen. Er ist überzeugt: Das verzweigte System reicht noch viel weiter. Tatsächlich entdeckt er im Jahr 2004 hinter dem Mörikedom zwei weitere Hallen, die er „Äonendom“ und „Mittelschiff“ tauft.
 

Die Höhlen lassen auch Andreas Kücha nicht los. Im Jahr 2001 erreicht er erstmals den Mörikedom. Auf den Spuren Hasenmayers dringen die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Blautopf immer weiter vor. Im Jahr 2006 treffen Kücha und sein Freund Jochen Mahlmann auf einen Felssturz, dahinter ein bislang unbekannter Durchgang. „Apokalypse“ nennen sie die 190 Meter lange, 70 Meter breite und 50 Meter hohe Halle, die sie dahinter betreten. Geschmückt ist sie mit Tausenden kleinen querwachsenden Tropfsteinen.

Zwei Jahre nach der Entdeckung der „Apokalypse“ dann erneut ein Coup: Kücha vernimmt in der südlichsten Ecke des Mörikedoms plötzlich ein Geräusch. „Mir wurde klar, dass das die Motorengeräusche von Lkws sind. Ich wusste also, dass die Oberfläche ganz nah ist“, erzählt Kücha. Tatsächlich sitzt er direkt unter der Bundesstraße B 28. Es kommt ihm eine Idee: ein neuer Zugang zur Höhle – genau an dieser Stelle.

Im Jahr 2010 ist es so weit: Neben der B 28 wird ein 17 Meter tiefes Loch gebohrt, der neue Zugang führt direkt in den trockenen Teil der Höhle. Kücha tauft ihn „Stairway to Heaven“. Als erster Mensch betritt er über die „Treppe zum Himmel“ die Höhle, ohne vorher tauchen zu müssen. Für die Forschenden beginnt mit diesem Tag eine neue Zeitrechnung: Material kann fortan leichter nach unten gebracht werden, auch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nun Zugang zu der unterirdischen Welt, die noch viele Rätsel aufgibt.

In den vergangenen Jahren hat die Arbeitsgemeinschaft Blautopf dank der Röhre etliche neue Abschnitte ausfindig machen können. Sie tragen Namen wie „Halle des verlorenen Flusses“, „Schluckloch“ oder „Schwarzer Kamin“. In den unterirdischen Welten der Karstlandschaft stecken Informationen über die Erdgeschichte, über frühere Klimaverhältnisse und die Entwicklung der Region. Kücha entnimmt Gesteinsproben, misst Fließgeschwindigkeit und Temperatur des Wassers, hält Vorträge – und weist auch immer wieder auf die menschengemachte Verschmutzung des Grundwassers auf der Schwäbischen Alb hin, mit der er durch seine Arbeit konfrontiert ist.

Kücha glaubt, dass die Höhlen unter dem Blautopf zusammen eines der größten Systeme in ganz Deutschland bilden könnten. Stand Juli 2023 sind 17,5 Kilometer erforscht, vermessen und kartiert. Das momentane Ende bildet der „Versturz 3“ unter dem Ort Wennenden im Alb-Donau-Kreis, ein rund 120 Meter langes Felsengebirge, das vor Jahrtausenden heruntergebrochen sein muss. Auch zwischen dem Blautopfhöhlensystem und der nahe gelegenen Hessenhauhöhle vermuten die Forschenden eine Verbindung. Bisher ist zwischen den einzelnen Höhlen auf der Schwäbischen Alb aber kein Durchkommen, außer für Luft und Wasser, wie verschiedene Experimente ergeben haben.

Die Frage ist: Wie geht es dahinter weiter? Und wird jemals ein Mensch die Passagen, an denen Gestein ein Weiterkommen verhindert, überwinden können? Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Blautopf sind sich sicher, dass sie weitere sensationelle Entdeckungen im größten Höhlenlabyrinth der Schwäbischen Alb machen werden: „Wir sind jetzt gerade einmal am Anfang der Forschung“, sagt Kücha. „Unser Ziel ist es, so weit wie möglich in das Herz der Alb vorzudringen. Das wird aber sicherlich noch eine Aufgabe von mehreren Generationen sein.“

Schneeweiße Calcitkristalle.