Fördern

Neue Perspektiven in einem fremden Land: Das Projekt Takaa–Niroo soll Frauen und Mädchen mit Fluchterfahrung auffangen und stärken.

Isabel Stettin,Ines Janas
Lesedauer: 3 Minuten

In Gesprächskreisen an 15 Standorten, zum Beispiel in Weingarten, erfahren sie und auch ihre Ehemänner, Brüder und Väter, welche Rechte Frauen in Deutschland haben. Die Geflüchteten tauschen sich aus über Familie und Geschlechterrollen, Normen und Erwartungen, Ängste und Hoffnungen. Vier Menschen und ihre Erfahrungen.

„Ich sage meinen deutschen Freundinnen immer, sie sollen glücklich sein, in einem Land leben zu können, in dem alle geachtet werden.“ 
Abeer A.

Die unantastbare Würde des Menschen

Meine Heimat ist zerstört. In Syrien hatte ich immer Angst: Was darf ich sagen? Wo kann ich mich frei bewegen? Hier in Deutschland fühle ich mich sicher und frei. Ich sage zu meinen deutschen Freundinnen immer wieder, sie sollen glücklich sein, in einem Land leben zu können, in dem alle geachtet werden. In dem gilt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In der Frauengruppe ging es viel um unsere Rechte. Mittwochs haben wir uns zum Frühstück getroffen, haben getanzt, uns unterhalten. Wir lernten viel über die Möglichkeiten, wie wir ein passendes Betreuungsangebot für unsere Kinder und einen guten Job finden können. In Syrien war ich Apothekenhelferin. Dort gibt es viele Ärztinnen und Lehrerinnen. Die Arbeitszeiten waren oft kürzer als hier. So blieb Zeit für die Kinder. In Deutschland finde ich das schwierig: Alle haben so viel zu tun und so viel Stress. Im Oktober beginne ich eine Ausbildung zur Pflegefachfrau. Davor machte ich ein Praktikum in einer Klinik in Wangen im Allgäu. Ich möchte unabhängig sein, selbstständig und deshalb auch einen guten Job haben. Mein Mann arbeitet als Lkw-Fahrer. Mein Sohn (14) und meine Tochter (12) sprechen bereits perfekt Deutsch. Mein Wunsch ist, dass sie studieren. Mittlerweile unterstütze ich andere Geflüchtete und übersetze. Meine Familie und ich wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben.“

„Mich macht es stolz, ein Teil der Mädchengruppe zu sein. Wir haben gelernt zu boxen, Grenzen zu setzen und „Nein“ zu sagen. 
Ruwaida I.

Mehr Selbstvertrauen in der neuen Heimat

„Es macht mich traurig, wenn meine Freundinnen beleidigt werden, nur weil sie ein Kopftuch tragen. Ich selbst ignoriere es, wenn Menschen mich wegen meiner Herkunft verurteilen. Wer mich nicht kennt, nie mit mir gesprochen hat, kann nicht wissen, wie ich ticke. In Weingarten habe ich aber sehr viele Menschen getroffen, die offen und hilfsbereit sind. Es macht mich stolz, ein Teil der Mädchengruppe zu sein. Wir haben gelernt zu boxen, Grenzen zu setzen, uns zu wehren, wenn wir belästigt werden, und „Nein“ zu sagen. Ich habe jetzt mehr Selbstvertrauen. Immer wieder kommen neue Teilnehmerinnen in unsere Gruppe: aus Syrien, dem Libanon, Russland, Albanien. Es tut gut, so viele Mädchen aus anderen Kulturen kennenzulernen. Freundschaften sind entstanden. Kultur, das bedeutet für mich all das, was unsere Eltern uns beibringen. Als wir den Irak verlassen haben, war ich sechs Jahre alt. Ich erinnere mich kaum daran. Bei einem unserer Mädchentreffen haben wir die irakische Kultur kennengelernt. Mit meiner Mutter haben wir Fladenbrot gebacken – und italienische Pizza. Doch mein Zuhause ist nun hier in Deutschland.“

„Damit alle Menschen frei leben können, ist es wichtig, dass auch alle Werte wie Gleichberechtigung, Offenheit und Toleranz teilen.“
Fatih A.

Das Land neuer Perspektiven und Chancen 

„Die Gesellschaft in Deutschland ist so vielfältig. In der Türkei hatte ich kaum Kontakt zu Menschen, die woanders herkamen. So entstanden Vorurteile. In der Männergruppe habe ich viele unterschiedliche Menschen getroffen, aus verschiedenen Ländern – und ich habe gemerkt, wie ähnlich wir uns sind. Das hat meinen Blickwinkel stark verändert. Weil die Gesellschaft in der Türkei patriarchalisch dominiert ist, haben Frauen nicht die gleichen Chancen und Mitspracherechte, auch nicht in der Familie und bei persönlichen Angelegenheiten. Dass in Deutschland Männer im Haushalt unterstützen und sich um den Nachwuchs kümmern, während die Frau arbeitet, finde ich richtig. Damit alle Menschen frei leben können, ist es wichtig, dass alle Werte wie Gleichberechtigung, Offenheit und Toleranz teilen – egal, welche Religion oder politische Richtung sie vertreten. In Baden-Württemberg engagieren sich viele Menschen ehrenamtlich, das hat mich beeindruckt. Ich kann mich in andere Geflüchtete hineinversetzen. Darum begleite ich sie nun als Integrationshelfer. In der Türkei war ich Englischlehrer und ich konnte mein Studium hier anerkennen lassen. Nun studiere ich ein zweites Fach an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten, um bald Englisch und Technik zu unterrichten. Deutschland ist das Land der Chancen, hier kann alles möglich werden.“ 

„Wir reden über alles – Probleme, Sorgen, Erfolge. Egal, wo jemand herkommt: Wir lernen voneinander. Wir alle sind Menschen, das zählt.“
Aida A.

Die Zukunft selbst in die Hand nehmen

„Als ich ein kleines Kind war, hatten wir oft kaum Geld für Essen. Es war eine schwere Zeit mit vielen Sorgen. Ich bin dankbar, dass ich hier in Baden-Württemberg eine Zukunft habe. Auf Deutschland war ich sehr neugierig. Die neue Sprache zu lernen, war hart. Ich bin stolz auf mich, dass ich schon so viele Fortschritte gemacht habe. In der Mädchengruppe können wir über alles reden – Probleme, Sorgen, Erfolge. Egal, wo jemand herkommt: Wir lernen voneinander. Wir alle sind Menschen, das zählt. Zusammen erleben wir viel: Wir haben Fotoshootings gemacht, Freundschaftsarmbänder gebastelt, die Umgebung erkundet. Ich mag es, dass die Menschen sich hier an Regeln halten, ich mag ihre Freundlichkeit. Auch im Libanon und in Syrien ist das wichtig: Gastfreundschaft, Herzlichkeit, die Familie. Die Menschen dort laden andere gerne zu sich zum Tee und zum Essen ein. Aber es haben nicht alle Frauen so viele Möglichkeiten wie hier. Sie könnten nicht so einfach Polizistin werden – oder sich ein Haus kaufen. In der Mädchengruppe lernen wir, dass wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen können. Semra Yilmaz und Anita Schmitt, unsere Gruppenleiterinnen, sagen immer: ‚Ihr seid stark.‘ Sie glauben an uns. Das gibt mir Kraft.“

Aus der Stiftung – Gesellschaft & Kultur

TAKAA–NIROO

„Takaa“ aus dem Arabischen und „Niroo“ aus dem Persischen bedeutet jeweils Kraft. Das Projekt der Werkstatt PARITÄT wird von der Baden-Württemberg Stiftung gefördert und will die gesundheitliche und soziale Lebenssituation von geflüchteten Frauen und Mädchen stärken. Auch die Männer werden in Gesprächskreisen mit einbezogen. In Weingarten leitet Semra Yilmaz die Frauen und Mädchengruppe. Im Interview erzählt sie von ihrer Arbeit: 

www.stopstartweiter.de/helfen