Wie viel Individualismus verträgt unsere Gesellschaft?

Was zählt mehr: das Recht des Einzelnen oder das Wohl der Allgemeinheit? Eine Betrachtung.

Johannes Böhme
Lesedauer: 3 Minuten

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Es gibt diesen Hof schon sehr lange. Es ist ein schönes Fachwerkhaus: dunkle Holzbalken, grüne Fensterläden, ein Stall für Pferde, eine Holzbank davor. Und es sieht so idyllisch aus, dass man den Lärm fast vergisst: das konstante Rauschen von Fahrzeugen, die mit 160 Sachen vorbeirasen. Das 210 Jahre alte Haus in Gladbeck ist eingequetscht zwischen die Autobahn A 2 und die Bundesstraße B 224, eine der meistbefahrenen Straßen Nordrhein-Westfalens. 

Als die Ahnen der heutigen Besitzer, der Familie Schulte-Pelkum, sich dort vor mindestens 1.100 Jahren niederließen, konnten sie davon natürlich nichts ahnen. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 900. Die Familie lebte dort, als die Pest kam, als napoleonische Truppen durchzogen und als das kleine Dorf zur Stadt wurde durch die fünf Kohlebergwerke, die hier im 19. Jahrhundert aufmachten. Als die Zechen in den 1970er-Jahren wieder schlossen, waren sie immer noch da. Und dann kam das Autobahnkreuz. Der Hof der Schulte-Pelkums liegt genau dort, wo bald ein Zubringer die Autobahnen A 2 und A 52 verbinden wird. Die Bundesstraße wird in eine Autobahn verwandelt. 2023 soll der Bau beginnen. Die Schulte-Pelkums haben sich lange widersetzt. Aber die Autobahngesellschaft machte ihnen klar: Wenn ihr nicht freiwillig verkauft, werdet ihr vom Staat enteignet.

Illustration eines riesigen Windrads, das direkt neben einem kleinen Haus steht
Was für das Wohl der Gesellschaft im Ganzen wichtig und sinnvoll ist, kann einen Schatten werfen auf das Leben einzelner Menschen.
Illustration einer Kuchenschachtel, in der Stücke in Form verschiedener Gebäude sind
Jede und jeder will ein schönes Stück vom Kuchen haben. Wenn es am Ende auch etwas zu verteilen geben soll, müssen alle mit ihren Mitteln dazu beitragen.

Ein Akt der Abwägung

Im Rechtsstaat wird das Individuum geschützt: vor Gewalt, vor Zensur, vor Diebstahl, vor Willkür und vor Diskriminierung. Aber immer wieder gibt es Fälle, wo dieser Schutz an eine Grenze kommt, nämlich dort, wo das Individuum in direktem Konflikt steht mit etwas Größerem: dem Gemeinwohl. Das Interesse aller macht es manchmal nötig, dass Einzelnen Dinge zugemutet werden, die sie sonst vielleicht nicht tun würden. Das beginnt beim Zahlen von Steuern, mit denen etwa Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Verwaltung, Polizei und Justiz finanziert werden. Und es reicht bis hin zu Fällen, in denen wichtige Infrastruktur entstehen soll. Dann kann der Staat dem Einzelnen auch Haus und Hof wegnehmen. In den allermeisten Fällen reicht die Drohung: Auch Familie Schulte-Pelkum hat ihren Hof am Ende an die Autobahngesellschaft verkauft, bevor es auf dem Rechtsweg zur Enteignung und finanziellen Entschädigung kam.

Das Grundgesetz sichert zwar das Eigentum, lässt aber auch ein Schlupfloch: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.“ Mehr als hundert Menschen werden jedes Jahr in Deutschland enteignet – nicht nur für den Straßenbau, sondern auch für den Braunkohleabbau oder für Stromleitungen, Pipelines, Eisenbahnlinien. Wenn enteignet wird, dann kennt das Gesetz kein Alter. Auch ein „Recht auf Heimat“ gibt es nicht, urteilte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2013. Damals hatte ein Polizist gegen die Zerstörung seines Hauses für den Braunkohleabbau im Tagebau Garzweiler II geklagt und verloren. Wie lange eine Familie ein Haus besitzt, ist egal. Selbst ob ihr das Grundstück zehn oder mehr als 1.000 Jahre gehört, macht keinen Unterschied. 

Es ist kein Wunder, dass die Definition dessen, was Gemeinwohl bedeutet, umkämpft ist. Lässt sich ein 200 Jahre altes Bauernhaus aufwiegen gegen eine Straße? Ist der Komfort der Pendlerinnen und Pendler, die durch die neue Autobahnspur weniger im Stau stehen, wichtiger als das Zuhause der Schulte-Pelkums? 

Aus der Stiftung – Kommunikation

JAHRESBERICHTE

Die Baden-Württemberg Stiftung hat sich in ihren Jahresberichten aus den Jahren 2015, 2016 und 2017 ausführlich mit den Artikeln 1, 4 und 5 des Grundgesetzes befasst. Die Würde des Menschen, die Glaubens- und die Meinungsfreiheit wurden zum jeweiligen Leitmotiv der Berichte, die einzelne Projekte und Programme vorstellen, mit denen sich die Baden-Württemberg Stiftung für das Land einsetzt. Mehr Infos unter:
Publikationen

Wie viel also kann man dem Einzelnen zumuten für das Wohl aller? Wie viele Rechte hat jede und jeder von uns – und wie viele Pflichten? Und wie hat sich das Verhältnis zwischen Gemeinwohl und Individuum in den letzten Jahrzehnten verändert? Lesen Sie den großen Essay im Magazin.

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