Alles – zu gut – geregelt?

In Deutschland gibt es über 1.700 Bundesgesetze. Lähmen all die Vorschriften aus Berlin und Brüssel unsere Wirtschaft und Gesellschaft? Oder erleichtern sie unser Leben? Dorothea Störr-Ritter, Landrätin im Kreis Breisgau-Hochschwarzwald und Mitglied des Nationalen Normenkontrollrats, im Gespräch mit Ursula Pachl, Vize-Generaldirektorin des Europäischen Verbraucherverbands.

Benno Stieber
Lesedauer: 4 Minuten

Frau Störr-Ritter, Frau Pachl, vom französischen Staatsphilosophen Montesquieu stammt der vielleicht einfachste Satz zur Vermeidung von Bürokratie: „Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu machen.“ Hat Montesquieu heute noch recht?

Dorothea Störr-Ritter Ja, ohne Einschränkung!

Ursula Pachl Ich glaube, das ist heute zu simpel. Wenn wir zum Beispiel wollen, dass die Europäische Union ein Markt ohne Grenzen ist, von dem alle profitieren, dann muss dieser gemeinsame Markt unter verschiedenen Nationen gesetzlich geregelt werden. Damit wird Handel möglich, ohne dass jedes Land eigene Standards reklamiert. Wie detailliert das geschieht, ist dann eine politische Frage. Aber so wie es Montesquieu formuliert, erscheint es mir zu prinzipiell.

DSR Lassen Sie mich präzisieren: Ich verstehe diesen Satz als Appell an die Politik, wirklich gründlich darüber nachzudenken, ob und wann es ein neues Gesetz braucht. Gesetze schützen die, die sich alleine nicht durchsetzen können. Ist Ihnen der Grundsatz vielleicht deshalb zu rigide?

UP Durch EU-Gesetze werden Verbraucherinnen und Verbrauchern im Binnenmarkt gewisse Qualitätskriterien garantiert. So erfahren sie etwa, was in Lebensmitteln enthalten ist. Aber auch für die Wirtschaft ist es durch diese Gesetze überhaupt erst möglich, auf diesem großen Markt Produkte anzubieten, die nicht nach den nationalen Gesetzen jedes einzelnen Landes modifiziert werden müssen. Deshalb sind Gesetze keineswegs immer eine Belastung, so wie das gern dargestellt wird. Verbraucherschutz und die Harmonisierung des Marktes sind zwei Seiten derselben Medaille.

Portraitfoto einer Frau mit Kurzhaarfrisur und Brille in schwarzweiß
Dorothea Störr-Ritter, Landrätin im Kreis Breisgau- Hochschwarzwald, ist seit 2011 Mitglied im Nationalen Normenkontrollrat. Das zehnköpfige Gremium wurde 2006 von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeführt und soll Bürokratie- und Folgekosten von neuen Gesetzen prüfen und die Bundesregierung zu besserer Rechtsetzung beraten.

Frau Störr-Ritter, der deutsche Normenkontrollrat, dem Sie angehören, wurde 2006 auch gegründet, um Klagen aus der Wirtschaft zu begegnen, zu komplizierte Gesetzgebung hemme den Fortschritt. Ging es da um Gesetze, die vor allem aus Brüssel kamen?

DSR Für unsere Aufgabe ist es erst mal egal, ob ein Gesetz durch Brüsseler Vorgaben oder auf nationaler Ebene entsteht. Wir messen die Bürokratielast für Unternehmen und auch für die Behörden vor Ort. Seit der Normenkontrollrat gegründet wurde, muss bei neuen Gesetzen ausgewiesen werden, welche Bürokratiebelastung durch ein Gesetz entstehen wird. Wir beurteilen aber nicht, ob die Kosten für ein Gesetz angemessen sind. Das muss die Politik entscheiden. Oft sorgt gar nicht so sehr das neue Gesetz selbst für so große Aufregung, sondern der einmalige Umsetzungsaufwand dafür.

Also wenn ein Unternehmen zum Beispiel plötzlich eine Datenschutzbeauftragte benennen oder Produktionsabläufe umstellen muss. Wenn man sich den Jahresbericht des Normenkontrollrats anschaut, dann steht auf Platz eins der Hauptbelastungen der Wirtschaft die neue Pflanzenschutzverordnung und auf Platz drei das Verbot des Kükenschredderns. Das sind beides sinnvolle Eingriffe. Zugleich ist klar, dass sie Aufregung unter Landwirten erzeugen.

UP Das sind zwei gute Beispiele dafür, dass sich von Wirtschaftsseite oft die Diskussion verschiebt. Bei den genannten Gesetzen geht es ja weniger um die Bürokratiebelastung durch ein Gesetz, sondern um die vermeintliche Zumutung, die das Verbot an sich auslöst. Da werden positive Effekte oft bewusst ausgeblendet. Man könnte auch beziffern, wie viele Kosten im Gesundheitswesen eingespart werden, wenn etwa Pestizide verringert werden. Stattdessen wird von den Kosten für die Unternehmen gesprochen. Ein hoher Verbraucherschutz nutzt übrigens auch der Wirtschaft, weil die Menschen dem Markt und den Produkten großes Vertrauen entgegenbringen.

Volle Kaufhausregale von oben
SICHERE AUSWAHL
Im Durchschnitt stehen in deutschen Supermärkten fast 12.000 Artikel zum Verkauf. Eine Riesenauswahl, die staatlich geprüft ist. Mit seinen Regeln schützt der Rechtsstaat die Verbraucherinnen und Verbraucher etwa vor Lebensmitteln, die gesundheitsgefährdend sind – und vor falschen Informationen auf den Verpackungen.

Was sagt es dem Bundestag, wenn im Bericht des Normenkontrollrats steht, das Verbot des Kükenschredderns kostet die Landwirtschaft 148 Millionen Euro?

DSR Indem wir die Kosten nennen, kann der Gesetzgeber entscheiden, ob der Nutzen, den er sich von dem Gesetz verspricht, die Kosten rechtfertigt. Natürlich sind Naturschutz und Verbraucherschutz wichtige politische Ziele, die die Kosten rechtfertigen können und für die es sich lohnt, sich mit der Wirtschaft auseinanderzusetzen.

UP Ein Gesetz nur nach der Frage der Kosten zu diskutieren, schränkt aber den Blickwinkel viel zu sehr ein. Wichtig ist zu sehen: Wir müssen im Bereich Umweltschutz eingreifen, weil wir in einer extremen Krise stecken und tiefe Veränderungen notwendig sind, um dem Klimawandel und dem Artensterben etwas entgegenzusetzen. Dieses Gegensteuern ist nur durch tiefgreifende Regulierung zu erreichen. Da gibt es dann vielleicht auch Geschäftsmodelle, die nicht mehr passend sind.

Portraitfoto einer Frau in schwarzweiß mit Blazer und vor Körper verschränkten Armen
Ursula Pachl ist stellvertretende Direktorin des Europäischen Verbraucherverbands (BEUC). Der Verband vertritt 46 unabhängige Verbraucherverbände aus 32 europäischen Ländern in Brüssel. Der BEUC setzt sich für Verbraucherinteressen bei den Institutionen der Europäischen Union ein.

Finden Sie denn die Kostenbetrachtung grundsätzlich falsch?

UP Nein, die Diskussion, wie man effizienter ein politisches Ziel erreicht, ist wichtig und gut. Aber gerade im Verbraucherschutz sind es nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich über Überregulierung beklagen. Was die Wirtschaft als Belastung empfindet, ist für die Bevölkerung meist eine Verbesserung.

 

Effizienz heißt aber doch auch weniger Papierkram für die Bürgerinnen und Bürger.

UP Ja, es gibt auch in meinem Bereich eine Überlastung der Verbraucherinnen und Verbraucher mit Information. Auch deshalb, weil wir immer davon ausgegangen sind, dass Informationen die Menschen in die Lage versetzen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das ist sicher ein Konzept, das heute angesichts der digitalen Informationsflut an seine Grenzen kommt.

Ist der Gesetzgeber schuld, wenn Eltern für jeden Schulausflug fünf Seiten Datenschutzerklärungen unterschreiben müssen?

DSR Die Datenschutzerklärung, die sie da unterschreiben müssen, ist ein Zeichen dafür, dass sich die Gesetzgeber zu wenig Gedanken gemacht haben, wie ein Gesetz umgesetzt werden muss. Auch wir erleben häufig, dass die Gesetze in der praktischen Handhabung viel zu bürokratisch und zu kompliziert sind. Aber dann ist es zu spät. Deshalb wäre es wichtig, die kommunalen Ämter schon bei der Gesetzgebung einzubeziehen, um das zu verhindern. Man hat das beim Thema Wohngeld mit einer Expertenrunde versucht. Da waren Wohngeldempfängerinnen und -empfänger, aber auch die Ämter, die das Wohngeld auszahlen müssen, gefragt. Wenn man alle Betroffenen rechtzeitig einbezieht, kommt man zu ganz anderen Ergebnissen.

UP Gerade bei der Datenschutz-Grundverordnung wird in der Umsetzung vieles übertrieben und auch schlicht falsch umgesetzt. Ich weiß nicht, warum die Frage nach dem Einverständnis der Eltern, ob ein Bild von dem Kind auf einer Webseite auftauchen darf, ein fünfseitiges Schriftstück braucht. Grundsätzlich ist es aber positiv, dass ich im digitalen Zeitalter, in dem Computer Menschen auf Bildern automatisch und eindeutig erkennen können, gefragt werden muss, wie Fotos meines Kindes verwendet werden dürfen.

Nahaufnahme vom Gesicht einer Kuh, das von einer Hand gehalten wird
STAATSZIEL TIERSCHUTZ
Gesetze sollen schützen – nicht nur den Menschen, sondern auch Flora und Fauna. Was heute als selbstverständlich gilt, war lange Zeit anders geregelt. Erst im Jahr 1994 wurde der Umweltschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen. Acht Jahre später verankerte der Gesetzgeber auch den Tierschutz in der deutschen Verfassung. Vorausgegangen war eine jahrelange gesellschaftspolitische Debatte.

Das heißt, es ist nicht immer das Gesetz, das die Dinge kompliziert macht?

UP Genau. Bei großen Unternehmen sind komplizierte Schriftsätze oft Teil der Strategie. Jeder von uns kennt Datenschutzerklärungen mit zehn oder zwanzig Seiten, die man nicht versteht. Das ist natürlich Absicht, weil das Unternehmensmodell von Facebook oder Google darauf ausgerichtet ist, so viele Daten wie möglich aufzusaugen und den Verbraucherinnen und Verbrauchern keine wirkliche Wahlmöglichkeit zu geben. Es gibt diese Cookie- Banner auf jeder Webseite ja nicht, weil der Gesetzgeber das generell vorschreibt, sondern weil die Unternehmen nach Wegen suchen, wie sie Daten für ihre Zwecke erheben können, die zum Aufsuchen der Webseiten eigentlich gar nicht notwendig wären. Man will sich gegen alle Eventualitäten absichern und dann müssen Angehörige einen 50 Seiten-Vertrag unterschreiben, wenn sie ihre Eltern im Altersheim anmelden.

Warum Bürokratie aus Angst entsteht, die Franzosen bürokratischer sind als die Deutschen und warum oft nicht die EU schuld am Paragraphendschungel ist. Lesen Sie hier das große Interview weiter.

Aus der Stiftung

KLIMASCHUTZSTIFTUNG BADEN-WÜRTTEMBERG

Viele Unternehmen und Organisationen möchten freiwillig Verantwortung übernehmen und Regeln zum Schutz des Klimas beachten – für einen bewussten Umgang mit Treibhausgasemissionen. Die Klimaschutzstiftung hilft ihnen dabei, etwa mit dem CO2-Rechner oder mit ihren Kompensationsangeboten. Auch Einzelpersonen und kleinere Betriebe können ihre Emissionen auf der Website der Klimaschutzstiftung einfach kalkulieren und ausgleichen. Mehr Infos unter:

Klimaschutzstiftung Baden-Württemberg