Allein – oder Seite an Seite?

Abhara Huq, Elim Ghebreyesus und Tony Alnasri sind drei „Talente im Land“. Ein Gespräch über Mut, Vorbilder und Vertrauen in die eigene Stärke.

Isabel Stettin
Lesedauer: 10 Minuten

Wann habt ihr euch zuletzt mutig gefühlt?

Elim Ghebreyesus Vor Kurzem hat ein Mitfahrer im Bus einen richtig dummen rassistischen Spruch zu mir gesagt. Was genau, daran kann und will ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich habe dann tief durchgeatmet und nur entgegnet: „Manchmal ist es besser, einfach den Mund zu halten.“ Doch ich war froh, dass ich mich getraut habe dagegenzuhalten – wenn auch nur, weil ich kurz danach ausgestiegen bin. Mut heißt für mich, die eigene Komfortzone im Alltag immer wieder zu verlassen. 

Abhara Huq Mut ist für mich mit Angst gekoppelt. Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben, im Gegenteil. Wer sich fürchtet und sich dennoch traut, diese Gefühle zu überwinden, der handelt in meinen Augen mutig. Für mich zum Beispiel ist es das Schlimmste, vor anderen Menschen zu sprechen, weil ich mich dann total unsicher fühle. Präsentationen in der Schule, Bewerbungsgespräche wie bei „Talent im Land“ (TiL), solche Situationen sind für mich eine riesige Herausforderung. 

Tony Alnasri Für mich war Mut früher mit Superhelden verknüpft, die die Welt retten. Doch couragiert handeln kann jede und jeder auch im Alltag: etwa wenn man andere in einer Mobbing-Situation verteidigt und sich für seine Mitmenschen einsetzt, nicht nur für sich selbst. Mutig kann es auch sein, etwas nicht zu tun und sich so gegen die Mehrheit zu stellen. Manchmal weiß man auch erst hinterher, ob man mutig gehandelt hat. 

Inwiefern?

TA Mit 13 Jahren floh ich vor dem Bürgerkrieg von Syrien nach Deutschland, ohne meine Eltern. Für mich fühlte sich das damals gar nicht mutig an. Es war eher eine rationale Entscheidung, da klar war, dass ein sicheres Leben auf mich wartet und ich hier bessere Bildungschancen habe. Erst wenn ich heute zurückdenke, nehme ich es als ziemlich tapfer wahr. Ich verließ meine Eltern, meine Freunde, mein Umfeld, ohne eine Ahnung von Deutschland zu haben. Ob ich gegangen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass es noch Jahre dauert, bis meine Eltern nachkommen, weiß ich nicht. Aber es hat mir geholfen, dass meine Tante bei mir war. 

Aus der Stiftung – Bildung
TALENT IM LAND

Wer Mut entwickeln und seine Begabungen entfalten will, braucht manchmal jemanden an seiner Seite. Das Stipendienprogramm Talent im Land unterstützt begabte Schülerinnen und Schüler aus Baden-Württemberg finanziell und ideell auf ihrem Weg zum Abitur oder zur Fachhochschulreife. Mehr als 800 Stipendiatinnen und Stipendiaten konnten seit dem Programmstart 2003 bereits gefördert werden. Mehr Infos unter:

www.talentimland.de

Abhara Huq, 17, hat sich lange nicht getraut, einen Traum umzusetzen, weil sie sich für unsportlich hielt. Heute liebt sie ihr neues Hobby: Kickboxen. 2021 macht sie Abitur. Danach möchte sie Physik studieren, forschen und lehren, weil sie gern Wissen weitergibt. Abhara lebt in Heidenheim an der Brenz. Ihre Eltern stammen aus Bangladesch.

Wie war das Ankommen im fremden Land?


TA Ich war anfangs sehr schüchtern und konnte nicht offen auf andere zugehen. Ohne Sprachkurs kam ich direkt auf ein G8-Gymnasium. Ein pensionierter Lehrer, der sich für Geflüchtete einsetzt, hat mich aber seit meiner Ankunft unterstützt. Er war es auch, der mir später von TiL erzählt hat. Vor dem Bewerbungsgespräch hatte ich große Angst: Wie trete ich auf, wie verhalte ich mich? Welche Fragen kommen auf mich zu? Als dann die Zusage kam, war ich nur erleichtert. Durch meine Erfahrungen verstehe ich aber auch, welche Probleme Geflüchtete haben. Deshalb engagiere ich mich in einem Verein namens Kubus. Oft übersetze ich in Schulen unserer Umgebung bei Elterngesprächen. Das ist mir wichtig, Kommunikation ist der Schlüssel. Auch für mich war es das Wichtigste, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. 

EG Meine Eltern sind auch vor Jahren als Asylsuchende von Eritrea nach Deutschland geflohen – mit dem Ziel, dass ihre Kinder hier frei aufwachsen können und ein besseres Leben haben. Das bewundere ich sehr. 

Kann man sich Mut also auch von anderen abschauen?

AH Ja, vor allem von Personen im eigenen Umfeld. Von Menschen, die zu sich stehen, ihre Meinung vertreten, Selbstvertrauen haben. Ein Mädchen traut sich, seine Gedichte auf der Bühne vorzutragen und beim Poetry Slam aufzutreten. Ein TiL-Stipendiat hat Nachhilfeunterricht für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund aufgezogen, deren Familien sich keine teuren Kurse leisten können. Ich selbst baue nun die Nachhilfe-AG ,,Leichter Lernen“ an meiner Schule neu auf. Es gibt so viele, die in Sachen Bildung benachteiligt sind. Darum möchte ich mich engagieren, so wie es auch das Ziel von TiL ist, sich für Bildungsgerechtigkeit einzusetzen. 

EG Der Mut anderer kann einen antreiben. Ich habe einmal über Martin Luther King ein Referat gehalten und mich viel mit ihm beschäftigt. Ein Zitat ist mir besonders im Kopf geblieben: „Wenn du nicht fliegen kannst, renne. Wenn du nicht rennen kannst, gehe. Wenn du nicht gehen kannst, krabble. Aber was auch immer du tust, du musst weitermachen.“ Er ist mein Vorbild, weil er so viel bewegt hat mit seinem Einsatz für Gerechtigkeit und für die Rechte der Schwarzen. Er hat unsere Welt verändert, weil er trotz Widerständen einfach drangeblieben ist. Es braucht Menschen, die den ersten Schritt gehen. Nur so ist Entwicklung möglich. 

Tony Alnasri, 18, möchte am liebsten alles ausprobieren. Er spielt Geige und Klavier, liest gern, interessiert sich für Philosophie und ist seit seiner Kindheit von der Wissenschaft des menschlichen Körpers fasziniert. Nach dem Abitur möchte er Medizin studieren und anderen helfen. Darum engagiert er sich auch für andere Geflüchtete im Verein Kubus. Tony lebt heute mit seinen Eltern in Donzdorf.

Lässt sich dieses Selbstvertrauen trainieren, so wie ein Muskel?


TA Ich glaube schon. Je öfter wir uns überwinden, statt unangenehme Situationen zu vermeiden, desto mehr lernen wir daraus. Der Anfang ist oft am schwersten. Mut heißt, ein Risiko einzugehen und auch negative Konsequenzen in Kauf zu nehmen. 

EG Stimmt, meist haben wir nicht viel zu verlieren, außer all den verpassten Gelegenheiten, die vielleicht nicht wiederkommen. Wenn wir etwas zumindest versuchen, lässt sich viel mehr erreichen. Im schlimmsten Fall schafft man es nicht, im besten Fall erreicht man es. 

AH Wichtig ist es, dranzubleiben. Bei den TiL-Seminaren müssen wir regelmäßig präsentieren und diskutieren. Auch wenn es mir noch immer Angst macht, vor einer Menschengruppe zu sprechen, fühle ich mich heute viel selbstsicherer.

EG Mut steht für Entwicklung, dafür, aktiv zu werden. Erfolgserlebnisse machen selbstsicherer. Aber auch Rückschläge gehören im Leben eben dazu. Es ist wichtig zu lernen, damit umzugehen, ohne sich zu verkriechen oder aufzugeben. 

Elim Ghebreyesus, 17, liebt es, mit anderen gemeinsame Sache zu machen. Nach dem Abitur an einem beruflichen Gymnasium möchte sie mit Menschen arbeiten, am liebsten im sozialen Bereich – und nicht zu viel im Büro sitzen. Sie lebt in Ulm, engagiert sich als Ministrantin und bei der Katholischen Jungen Gemeinde, wo sie eine Kindergruppe leitet.

Wie geht ihr ganz persönlich mit solchen Rückschlägen um?

AH Bei meiner ersten Bewerbung für TiL wurde ich nicht angenommen. Doch ich habe es einfach nochmal versucht. Ich wusste: Im besten Fall klappt es im zweiten Anlauf doch. Die zweite Bewerbung war aber viel schwieriger. Was, wenn es wieder nichts wird? Mir war klar, ein zweiter Rückschlag wäre noch schlimmer – auch wenn ich dann zumindest alles gegeben hätte. Umso mehr hat mich der Erfolg bestärkt. Ich tendiere dazu, mein Ding durchzuziehen. Was ich aber noch lernen möchte, ist, ein besserer Teamplayer zu werden. Der Austausch mit anderen bei TiL hilft mir dabei. 

TA Ja, die anderen TiL-Stipendiatinnen und -Stipendiaten haben so eine Energie, die einen einfach mitzieht. Wir sind so unterschiedlich und haben so verschiedene Hintergründe. Darum lernen wir wahnsinnig viel miteinander und vor allem voneinander. Ich bin viel offener geworden und traue mich, Leute einfach anzusprechen. 

EG Manchmal braucht man auch einfach ein wenig Glück. Ich war früher auf der Realschule, dachte, mit den anderen kann ich eh nicht mithalten. Ohne meine Schwester hätte ich mich nie getraut, mich bei TiL zu bewerben. Sie hat mich immer wieder aufgefordert, weil sie selbst Stipendiatin war. Irgendwann registrierte ich mich zwar, doch ich verschickte meine Bewerbung nicht, weil ich dachte, ich habe keine Chance. Kurz vor Anmeldeschluss kam plötzlich eine Mail: Die Frist wurde verlängert, aufgrund technischer Probleme. Das sah ich als Zeichen und überwand mich doch noch. 

Würdet ihr eure Generation als besonders mutig bezeichnen?

EG Wenn ich mir die aktuellen Bewegungen so anschaue, Fridays for Future, Black Lives Matter, würde ich sagen: ja. Viele junge Menschen engagieren sich und wollen einen Unterschied machen. Wir lernen, kritisch zu denken, zu unserer Meinung zu stehen und andere Perspektiven einzunehmen. Bildung ist ein Privileg. Bildung bedeutet aber auch Druck und Verantwortung. Wir sehen, wir können mit unserem Verhalten einen großen Unterschied machen. Wir haben die Möglichkeit, heute schnell viele Menschen zu erreichen. Ich finde es gut, dass immer mehr Influencer YouTube und Instagram nicht nutzen, um Make-up-Tutorials zu zeigen, sondern um sich für wichtige Themen einzusetzen: gegen Rassismus oder Homophobie, für Klimaschutz und Feminismus. 

AH Aber es sind noch zu wenige. Wer sich sichtbar und damit angreifbar macht, braucht Mut. Darum ist es so wichtig, zusammenzuhalten. Wir sind vernetzt wie keine andere Generation zuvor. Smartphones und soziale Medien sind uns vertraut. Sie machen es möglich, sich mit Menschen überall auf der Welt zu verbinden. Und je mehr sich zusammenschließen mit einem Anliegen, desto mehr lässt sich erreichen. Es ist zwar eine Phrase, doch sie stimmt einfach: Zusammen sind wir stärker! 

TA Ich sehe die Entwicklung etwas kritischer. Jugendbewegungen gab es schon immer. Die Frage ist, was bleibt? Klar gibt es gute Impulse. Doch was mich sorgt, ist die andere Seite: Wenn ich mich im Schulbus umsehe, erschreckt es mich eher, wie viele über dem Bildschirm hängen, anstatt miteinander zu sprechen. Überhaupt nicht mutig sind für mich alle, die im Schutz der Anonymität ihre Meinung sagen, Videos abfällig kommentieren, Hasskommentare verbreiten. Wer selbst wenig überlegt, sich nur durch Influencer leiten lässt und anderen blind folgt, hat keinen Mut. 

AH Natürlich gehört mehr Mut dazu, ganz allein etwas anzugehen: So wie Greta Thunberg, die mit einem Schild begonnen hat zu streiken und damit eine weltweite Bewegung losgetreten hat. Doch erst durch viele, die mitziehen, entsteht mehr Macht, etwas zu bewirken. Und auch das ist ein Akt von Mut: Leute zusammenzutrommeln und von etwas zu überzeugen. Auch ich habe mich bei Fridays for Future in einer örtlichen Gruppe engagiert. Und weiß, wie viel Engagement das erfordert. 

EG Ich finde, als Teamplayer, in der Gemeinschaft, lässt sich mehr erreichen. Und jeder kann mit gutem Beispiel vorangehen … 

TA Ich will nicht unbedingt ein Vorbild sein. Doch wenn ich merke, jemand traut sich nicht, obwohl er Potenzial hat, dann ermutige ich ihn. Banales Beispiel: wenn mein Sitznachbar sich nicht meldet, obwohl er die Antworten immer kennt. Das finde ich schade. Ihn motiviere ich immer. Oder meine Schwester, die jetzt zwölf ist. Zu ihr sage ich beim Lernen oft: „Du kannst das!“ Manchmal braucht es nur etwas Geduld – oder einen kleinen Anstoß von außen. 

Videobeiträge zum
Interview

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Video Making of

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Was zeichnet mutige Menschen aus? Eine Antwort von TiL-Stipendiatin Abhara Huq

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Was bedeutet Mut für dich? Eine Antwort von TiL-Stipendiat Tony Alnasri

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Was ist das Besondere an TiL? Eine Antwort von TiL-Stipendiatin Elim Ghebreyesus