Auf sicherem Boden

Kinder haben ein besonderes Schutzbedürfnis. Damit sie emotionale Stabilität und soziale Kompetenzen entwickeln können, brauchen sie Geborgenheit und Freiräume. Was Kindern innerhalb ihrer Familie und in ihrem Umfeld Sicherheit gibt – und was das mit Rechtsstaat und Demokratie zu tun hat. Eine Betrachtung.

Elisa Holz
Lesedauer: 6 Minuten

I

Im November 1907 kam das Mädchen Astrid in der schwedischen Provinz Småland auf die Welt. In einem alten roten Holzhaus, umgeben von Wiesen und Apfelbäumen, im Stall die Pferde und im Hof die Hühner. Viele können sich nach diesen ersten Sätzen schon ein ziemlich genaues Bild dieser Kindheit machen. Das liegt auch daran, dass Astrid Lindgren im Erwachsenenalter Autorin sehr vieler, sehr berühmter Kinderbücher wurde. Darunter auch Wir Kinder aus Bullerbü, in dem sie ihre eigene glückliche Kindheit wiederaufleben lässt. „Zwei Dinge hatten wir, die unsere Kindheit zu dem machten, wie sie war – Geborgenheit und Freiheit“, hat die Schriftstellerin später notiert. In den mehr als hundert Jahren seit Astrid Lindgrens Bullerbü-Kindheit hat sich die Welt tiefgreifend verändert. Doch Geborgenheit ist nach wie vor eine grundlegende Voraussetzung für das Wohlergehen von Kindern. Nur, wie entsteht Geborgenheit? 

Die Antwort scheint einfach, ist aber überaus komplex: durch gute Beziehungen zu anderen Menschen. Sie können im Leben gleichermaßen ein Sprungbrett und ein Auffangnetz sein. „Kinder sind in hohem Maß auf Bezugspersonen angewiesen, die sie im Alltag und bei ihren Entwicklungsaufgaben unterstützen“, erklärt Ute Ziegenhain. Die Pädagogin und Entwicklungspsychologin arbeitet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm daran, wissenschaftliche Erkenntnisse – insbesondere auch aus der Bindungsforschung – von der Theorie in die Praxis zu überführen. Dabei ist eine zentrale Erkenntnis unbestritten: „Die ersten Beziehungen sind wie eine Schablone für das kommende Leben.“ Das Geflecht aus liebevollen, stabilen und vertrauten Beziehungen zu Eltern, Verwandten, Freunden und auch zu Lehrenden bildet das sichere Fundament, auf dem Kinder die Welt entdecken und erfahren können. Ein Schlüsselbegriff ist dabei Feinfühligkeit – die Fähigkeit, Kinder in ihrem besonderen Schutzbedürfnis wahrzunehmen, ihre Signale zu interpretieren und intuitiv richtig darauf zu reagieren. Wer in einem feinfühligen Beziehungsfeld aufwächst, ist später selbstständiger, selbstbewusster, konfliktfähiger und kompromissbereiter. Kurzum: fähig, selbst positive Beziehungen einzugehen und zu führen. „Das ist nicht nur für das Individuum, sondern auch für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft wichtig“, sagt Ute Ziegenhain. Schließlich basiert auch eine erfolgreiche Demokratie auf Vertrauen zwischen dem Staatsvolk und seinen Repräsentantinnen und Repräsentanten.

Im Kreislauf der Gewalt 

Aber nicht alle Menschen erleben eine Apfelblüten-Kindheit im gemütlichen Holzhaus. Das muss auch nicht sein. Viele Mädchen und Jungen in unserer Gesellschaft haben eine gute Kindheit – mit normalen Höhen und Tiefen. „Bis zu 60 Prozent der Kinder entwickeln sichere Bindungen mit engen Bezugspersonen“, betont Ziegenhain. Aber: Es gibt eben auch Kinder, die physische, psychische oder sexuelle Gewalt erleben müssen. „Dass Kinder gewaltfrei aufwachsen können, muss ein zentrales Ziel für alle gerechten Gesellschaften sein“, fordert Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Ulm. Das sieht auch der Gesetzgeber so. Zwar stehen Kinderrechte noch immer nicht explizit im Grundgesetz, aber im Jahr 2000 wurde wenigstens endlich das Recht auf gewaltfreie Erziehung in Deutschland gesetzlich verankert. Das war nicht nur, wie jetzt auch bei den Kinderrechten vermutet, Symbolpolitik. Die Einstellung zu Gewalt in der Erziehung hat sich unterdessen in weiten Teilen der Gesellschaft deutlich verändert: Ohrfeigen, Demütigungen oder auch Vernachlässigungen sind längst nicht mehr akzeptiert. Das heißt aber nicht, dass das Problem von Gewalt in der Familie aus der Welt ist.

Gerade in ihrer eigenen Familie ist die Gefahr für Kinder, Opfer von Gewalt zu werden, besonders groß. Ob ein Kind in der Familie Gewalt direkt erfährt oder Gewalt zwischen den Eltern beobachten muss, macht laut Ute Ziegenhain kaum einen Unterschied. Oft ist es doppelt belastend, wenn der aggressive Elternteil Angst verbreitet und gleichzeitig der andere, oft wehrlose Elternteil nicht in der Lage ist, das Kind zu schützen. Für die betroffenen Kinder bedeuten schon sporadische, aber vor allem andauernde Gewalttätigkeiten existenzielle Unsicherheit. „Wie belastet Kinder sind, lässt sich nicht immer ohne weiteres an ihrem Verhalten ablesen“, sagt Ziegenhain. Die sichtbaren Symptome unterscheiden sich von Fall zu Fall. Aber Entwicklungsverzögerungen, mangelnde Konzentration, Aggressionen, unterdrückte Emotionen und Depressionen können Folgen sein. Viele Kinder entwickeln Strategien, um diese Unsicherheit auszugleichen und die Situation für sich und ihre Familie zu verbessern. Nicht selten übernehmen Betroffene auch gewalttätige Einstellungen und Verhaltensmuster ihrer Eltern. Die Wissenschaft spricht in solchen Fällen von einem „Cycle of Violence“, einer Spirale der Gewalttätigkeit.

Viele Menschen verbinden die Erinnerung an ihre Kindheit mit positiven Gefühlen. Doch es gibt nicht wenige Kinder, die in ihrer Familie Unsicherheit und Gewalt erleben müssen. Sie zu unterstützen, ist auch Aufgabe des Rechtsstaats.

Gesellschaftliche Frühwarnsysteme

Erlebte und miterlebte Gewalt in der Kindheit ist ein Trauma, das oft das ganze Leben lang nachwirkt. Aber es gibt Unterstützung – von der niedrigschwelligen Beratung bis hin zu diversen Therapieangeboten in der Jugendhilfe. Sie muss aber in Anspruch genommen werden können. Das ist leichter gesagt als getan, vor allem in Zeiten einer Pandemie. Nachdem vor der Coronakrise knapp ein Fünftel der Kinder psychische Auffälligkeiten zeigten, sind inzwischen bis zu einem Drittel aller Kinder in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigt, sagt Jugendpsychiater Jörg M. Fegert. Die Herausforderungen der vergangenen Jahre haben in vielen ohnehin schon finanziell und emotional belasteten Familien den oft feinen Firnis von Wohlwollen und Bemühen abgeschliffen. Die Nerven liegen blank. Dass die Pandemie gerade solchen Familien besonders stark zusetzt, merkt Fegert tagtäglich in seiner Arbeit: „Viele haben während der Pandemie auf Hilfe verzichten müssen oder sie erst zu spät gesucht. Wir schieben eine riesige Bugwelle vor uns her.“ Er
plädiert deshalb für einen großangelegten entlastenden „Recovery-Plan“. Gefährdeten Kindern und Familien müsse so früh wie möglich geholfen werden – am besten schon präventiv.

Das Problem: Niemand kann hinter geschlossene Türen blicken. Und die eigentlich so wichtigen Kontakte zu anderen Menschen wurden während der Pandemie immer wieder stark eingeschränkt. Schulen und Kindergärten waren in mehreren Phasen geschlossen, Jugend- und Vereinsarbeit wurden untersagt – und damit auch die gesellschaftlichen Frühwarnsysteme deaktiviert. „Die Situation schreit danach, dass man etwas tut“, sagt Fegert. Das Programm Familienorientierte Prävention häuslicher Gewalt der Baden-Württemberg Stiftung könne dabei einen wichtigen Impuls geben. Es wird gerade als „lernendes“ Programm entwickelt und will die Perspektiven und die jeweiligen (Entwicklungs-)Möglichkeiten aller Mitglieder in der Familie gleichermaßen berücksichtigen, sie individuell bestmöglich unterstützen und gegebenenfalls Hilfe vermitteln.

Voraussetzung für eine präventive Verbesserung der Situation wäre es auch, bereits existierende Hilfsmöglichkeiten und Anlaufstellen interdisziplinär zu vernetzen und Angebote zu synchronisieren. In einem relativ starr organisierten und finanzierten sozialen Hilfssystem ist dieser Ansatz indes beinahe revolutionär. „Aber wir haben die Pflicht, den Kindern wieder Sicherheit und Chancen zu geben“, sagt Fegert. Es ist die Aufgabe von Staat und Gesellschaft, den Kindern Gehör zu schenken und ihnen eine Stimme zu verschaffen. Die Beschreibung der eigenen Situation ist ein erster Schritt und kann insbesondere für belastete Kinder ein befreiendes Erlebnis sein. In der Psychologie spricht man von Selbstwirksamkeit. „Ein ganz wichtiger Schutzfaktor“, sagt Ute Ziegenhain.

Selbstwirksamkeit erleben

Selbstwirksamkeit können Kinder nicht nur im privaten Umfeld der Familie entwickeln. Sie entsteht auch durch Teilhabe am öffentlichen Leben – bei Grillabenden im Hinterhof, Fußballturnieren auf dem Bolzplatz ums Eck oder den Nachmittagen auf dem großen Spielplatz. Im öffentlichen Raum begegnen Kinder der Vielfalt ihrer Mitmenschen, wie in der Familie lernen sie hier soziales Miteinander. Doch auch über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus ist es für Kinder wichtig, dass ihr Umfeld von vertrauten und verlässlichen Beziehungen geprägt ist. Schulweghelfer, die nette ältere Dame von gegenüber oder der Klassenkamerad im Nebenhaus – soziale Netze entstehen leichter dort, wo jeder jeden kennt. Diese gewachsenen Strukturen sozialer Kontrolle im positiven Sinne hat auch die Stadtplanung im Blick, die das Zusammenleben ihrer Bürgerinnen und Bürger zunehmend in sogenannten Quartieren organisiert – gewissermaßen ein städtebauliches Äquivalent zu familiären Beziehungsstrukturen.

Auch in Ulm steht Quartiersarbeit ganz oben auf der städtischen Agenda. Oberbürgermeister Gunter Czisch, ehemals Mitglied in der Expertenkommission Sicherheit im Wandel der Baden-Württemberg Stiftung, hat dabei das große Ganze im Blick. „Es geht um das republikanische Wir“, sagt er. Und zu diesem Wir gehören selbstverständlich auch die Kinder. „Indem sie ihre nähere Umgebung erkunden, lösen sich Kinder von den Eltern. In diesem informellen Bildungsraum haben sie die Gelegenheit, Neues zu lernen.“ Um das zu ermöglichen, müssen sich Kinder sicher fühlen. Aber mindestens genauso wichtig ist ein Mindestmaß an Bewegungsfreiheit, um die Welt entdecken zu können. Dieses Spannungsfeld kann eine Kommune vor große Herausforderungen stellen – auch, weil viele Eltern maximale Sicherheit einfordern.

Kommunalpolitik, Stadtplaner und soziale Einrichtungen vor Ort müssen sich immer wieder fragen: Was wollen und brauchen Kinder? Um auf diese Frage passende Antworten zu finden, müssen Kinder selbst zu Wort kommen. In Ulm können sich Kinder und Jugendliche in der Jugendvertretung „Jugend aktiv in Ulm“ beteiligen und sich so Gehör verschaffen. Und es gibt auch immer wieder Aktionen wie Fotoexkursionen für Kinder durch die Stadt, um herauszufinden, welche Ecken für sie interessant sind. Häufig sind es Orte, die unfertig sind und Raum für Fantasie lassen. Keine Überraschung eigentlich. „Aber Bedürfnisse von Kindern werden nach wie vor durch die Brille von Erwachsenen betrachtet“, gibt OB Czisch zu. Das hat gesellschaftliche Ursachen. In der Regel arbeiten heute beide Eltern, die Kinder verbringen einen Großteil des Tages in Schulen, Nachmittagsbetreuungen oder Sportvereinen. In Ulm wird deshalb versucht, auch an diesen Orten im gegebenen Rahmen Freiheiten zu schaffen. Diese Räume und Flächen sollen zugänglich und vielfältig nutzbar sein. Die Entwicklung ist das direkte Resultat der gesellschaftlichen Einstellung: „Man soll den Kindern mehr zutrauen, anstatt das Korsett immer enger zu schnüren“, findet der Oberbürgermeister.

Aus der Stiftung – Gesellschaft & Kultur

SICHERHEIT IM WANDEL

Wie können wir in unsicheren Zeiten unsere Sicherheit erhöhen? Die Expertenkommission Sicherheit im Wandel – gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten stürmischer Veränderung erarbeitete 55 konkrete Handlungsempfehlungen, die sich an die Landesregierung Baden-Württemberg, Kommunen und an den Bund richten. Der Kommission gehörten auch die beiden Oberbürgermeister Gunter Czisch und Boris Palmer an. Mehr Infos unter:

Sicherheit im Wandel

Geborgenheit in Freiheit

Von engen Korsetts kann auch Boris Palmer berichten, der wie sein Kollege Czisch Mitglied in der Expertenkommission Sicherheit im Wandel war. Haftungsfragen, Sicherheitsvorschriften und Lärmschutz – wenn es um Kinder im Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit geht, hat der Oberbürgermeister von Tübingen häufig nur wenig Handlungsspielraum. Palmer erzählt von einer alten ausrangierten Dampfwalze am Rande eines Spielplatzes, die für viele Kinder das liebste Spielzeug gewesen ist. „Kinder und Eltern wollten die Walze behalten, aber die Sicherheitsvorschriften haben uns keine Wahl gelassen“, sagt Palmer. Als „Berufsanarchist“ und Vater von drei Kindern würde er sich natürlich weniger Regeln und mehr Gestaltungsfreiheit wünschen – gerade für Kinder. „Das Leben beinhaltet nun mal Risiken“, sagt Palmer. Doch bevor sich nicht die Einstellung der Gesellschaft zu Sicherheit und Risiko ändert, sieht er kaum Potenzial für große Veränderungen. In hochkomplexen Gesellschaften und immer dichter besiedelten Räumen lasse sich das Zusammenleben aller Menschen kaum freier organisieren.

Aber wie kann man das Zusammenleben so gestalten, dass die Kinder im lautstarken Widerstreit der Interessen nicht untergehen? Das Zauberwort lautet Partizipation. Durch die Erfahrung, gefragt zu werden und das unmittelbare Umfeld aktiv mitgestalten zu können, entwickelt sich in Kindheit und Jugend ein Bewusstsein für Verantwortung und Solidarität. „Wie die Welt von morgen aussieht, hängt in großem Maß von der Einbildungskraft jener ab, die gerade lesen lernen“, war auch Astrid Lindgren überzeugt. Und diese Einbildungskraft gedeiht am besten auf dem sicheren Boden von Freiheit und Geborgenheit.