Der Weg von Yvonne Gasser
Neue Kraft tanken

Yvonne Gasser war mehr als 20 Jahre lang im Streifendienst. Belastende Situationen gehörten zu ihrem Alltag. Bis ein brutaler Vorfall alles veränderte. Heute weiß sie: Sie muss nicht alles allein schaffen.

Isabel Stettin
Lesedauer: 4 Minuten

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Wenn das Martinshorn aufheult, steigt noch heute der Adrenalinspiegel bei Yvonne Gasser. Die 45-Jährige denkt gern zurück an ihre Zeit im Streifendienst. Sie liebte es einfach: Mit den Kolleginnen und Kollegen unterwegs sein, die vielen Begegnungen mit Menschen, keine Schicht glich der anderen. „Wir erfuhren viel Wertschätzung“, sagt sie. „Doch eine Polizistin mit Leib und Seele muss auch Belastendes verkraften können.“ Verkehrsunfälle, Gewalt, Gespräche mit Angehörigen, denen sie den Tod eines geliebten Menschen mitteilen musste – all das gehörte dazu. „Im Dienst müssen wir funktionieren“, sagt Gasser. „Ich kann nicht in der Uniform dastehen und weinen.“ Die Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen nach einer anstrengenden Schicht waren für sie wichtig: „Nichts in sich hineinfressen, sondern Gedanken offen teilen, das hilft.“ Mit dem Ablegen der Uniform versuchte Yvonne Gasser, die Belastungen loszulassen. Lange Zeit funktionierte das. Doch die Silvesternacht 2021 veränderte alles.

„Resilienz heißt für mich heute, mich auch mal zurückzuziehen und an meinen Kraftquellen aufzutanken. Ich habe viel erlebt. Doch genau das macht mich nun auch einfühlsamer im Umgang mit anderen.“
Yvonne Gasser (45)

Als sie und ihr Kollege bei einer Verkehrskontrolle einen betrunkenen Fahrer erwischen und aufs Revier mitnehmen wollen, schlägt der Mann um sich. Gasser und ihr Kollege bringen ihn zu Boden – Routine für das eingespielte Team. Doch dann tritt der Mann mit voller Wucht gegen Gassers Gesicht. Ihr wird schwindlig. Erst als der Schock nachlässt und sie in der Notaufnahme sitzt, spürt sie das Dröhnen im Kopf, die Übelkeit. Der Rücken und die Halswirbel schmerzen, den Kopf kann sie kaum drehen. Die Ärzte stellen ein Schädel-Hirn-Trauma fest und schicken sie aufgrund der Corona-Pandemie nach Hause. Im Bett beginnt sie zu zittern, ihr Herz rast, sie schwitzt und friert zugleich. Das weckt ihre Frau neben ihr. Sie ist die Erste, der sie erzählt, was passiert ist.

Vier Tage später ist der Stiefelabsatz auf Yvonne Gassers Stirn noch immer sichtbar. Nicht sichtbar sind die psychischen Verwundungen. So kommt sie auf Anraten eines Kollegen zur psychosozialen Begleitung des Polizeipräsidiums in Ulm. Ulrike Renz, selbst Polizistin und als Beraterin geschult, begleitet die Kollegin seit dem Vorfall. Für Gasser eine enorme Stütze: „Sie hörte einfach zu, bei ihr konnte ich über alles sprechen, ohne dass sie gleich mit Ratschlägen kam. Ich konnte ihr vertrauen“, erzählt Gasser. „Sie zeigte mir Atemtechniken, um abschalten zu können. Wenn ich mich unsicher fühle, kann ich mit mentalen Übungen Ruhe finden.“

Eine Studie bringt die Erkenntnis
Viele Gespräche folgten und eine Reha. Doch Flashbacks, Albträume, Panikattacken suchten Gasser weiter heim. Als sie einmal an jener Kreuzung, dem Ort des Geschehens, vorbeikam, erlitt sie einen Zusammenbruch – kurz bevor sie in den Dienst zurückkehren wollte. „Früher konnte ich immer alles bewältigen. Doch nun wurde mir meine Verletzlichkeit bewusst“, erinnert sich Gasser.

Eine wissenschaftliche Studie half ihr, sich besser zu verstehen und zu lernen, was ihr guttut. Das Polizeipräsidium Ulm untersuchte zusammen mit der Universitätsklinik Ulm und der Deutschen Traumastiftung, wie sich belastende Situationen auf Polizistinnen und Polizisten auswirken: Manche verarbeiten das Erlebte gut. Andere leiden an Schlafstörungen, Gereiztheit, körperlichen Beschwer den, Bildern im Kopf. Für die Untersuchung wurde Yvonne Gassers Herzfrequenz 24 Stunden lang gemessen und mit ihrem Tagesplan abgeglichen: So ließ sich erkennen, dass sie bei der Schreibtischarbeit entspannte, doch abends beim Nachrichtenschauen auf dem Sofa der Stresspegel stieg. Oder dass sie sich nachts mit Albträumen wälzte, doch beim Mittagsschlaf erholen konnte.

Das zentrale Ergebnis der Studie: 13 Prozent der 120 befragten Beamtinnen und Beamten wiesen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung auf. Auch Yvonne Gasser. „Ich musste das schwarz auf weiß sehen, um zu verstehen, dass ich Hilfe brauche“, sagt sie. „Ich bin der typische Dickschädel. Wie viele Polizistinnen und Polizisten denke ich immer: Ich muss das allein schaffen.“

Eine Traumatherapie hilft ihr seitdem. Yvonne Gasser hat gelernt, auf sich und ihren Körper zu achten. „Resilienz heißt für mich heute, mich auch mal zurückzuziehen und an meinen Kraftquellen aufzutanken.“ Radfahren, Zeit mit der Familie verbringen oder lange Spaziergänge mit dem Hund zählen für sie dazu. „Und vor allem der Austausch mit Kollegen und Freunden, die mich verstehen.“

In den Streifendienst kann Gasser seit dem Vorfall nicht zurückkehren. „Das schmerzt, weil es meine Leidenschaft war. Doch auch das bedeutet für mich Stärke: neue Wege und Lösungen zu finden.“ Als Beauftragte für Chancengleichheit beim Polizeipräsidium ist sie nun für Kolleginnen und Kollegen da, die Rat suchen oder sich benachteiligt fühlen. Andere unterstützen, die Polizei mitgestalten, das gibt ihr Kraft. „Ich habe viel erlebt. Doch genau das macht mich nun auch einfühlsamer im Umgang mit anderen.“

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