Essay

Realistisch bleiben – oder das Unmögliche denken?

Wir stecken mitten in der größten Krise, die wir als Menschheit jemals meistern mussten. Wie retten wir das Klima – und haben wir den Mut, neue Wege zu gehen?

Tobias Haberl
Lesedauer: 8 Minuten

I

Im Jahr 1972 platzte eine „Bombe im Taschenbuchformat“ (Die Zeit): Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology warnten im Auftrag des Club of Rome, dass im Laufe der folgenden 100 Jahre die Grenzen des Wachstums auf der Erde erreicht sein würden, wenn die Weltbevölkerung weiter zunehme und die Industrialisierung, die Umweltverschmutzung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen unverändert anhielten. Ihre Studie wurde ein weltweiter Bestseller. 

Knapp ein halbes Jahrhundert danach, im Jahr 2019, erschien wieder ein Buch, das jede und jeden, die bzw. der es liest, fassungslos zurücklässt: Losing Earth des US-Autors Nathaniel Rich. Es beschreibt, wie die Klimakrise bereits vor 30 Jahren verhindert hätte werden können. Rich, der mehr als 100 Expertinnen und Zeitzeugen interviewt hat, zeigt auf, wie zwischen den Jahren 1979 und 1989 sämtliche Großmächte das Jahrhundertthema auf dem Schirm hatten, aber es in letzter Sekunde nicht schafften, konkrete Maßnahmen auf den Weg zu bringen: Fast nichts, schreibt er, stand uns im Weg – nichts außer uns selbst. 

Die World Conference on the Changing Atmosphere, bei der sich die Umweltminister der wichtigsten Staaten dazu bekennen wollten, bis zum Jahr 2000 den CO2- Ausstoß nicht weiter zu erhöhen oder ihn sogar zu senken, scheiterte im Jahr 1989 vor allem am Widerstand der USA, schreibt Rich. Am Ende wollte niemand die Kosten der Konsequenzen tragen. Eine Dekade der Möglichkeiten und der Mutlosigkeit ging zu Ende, auch weil der Zeitgeist, so argumentiert die Publizistin Naomi Klein, einer couragierten staatlichen Lösung entgegenstand. Mit Politikerinnen und Politikern wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan begann sich seit den 1980er-Jahren weltweit eine Politik der Privatisierung und Deregulierung zu etablieren: Die freien Märkte sollten machbare Problemlösungen finden. 

Das Präventionsparadox

Wie wenig das Wissen von damals die Menschheit davon abgehalten hat, die Erderwärmung abzubremsen, wird deutlich, wenn man sich die Entwicklung der CO2-Emissionen von 1990 bis 2019 anschaut: Während Deutschland seinen Treibhausgasausstoß um 32 Prozent verringern konnte und die USA es immerhin schafften, ihn konstant zu halten, explodierte er in Indonesien um 366 Prozent, in China um 323 Prozent und in Indien um 312 Prozent – alles Staaten, die das Wohlstandsniveau des Westens erreichen wollen und heute das tun, was wir jahrzehntelang getan haben: das Bruttosozialprodukt steigern und mehr oder weniger bedenkenlos fossile Ressourcen verfeuern. „Wir haben unseren Wohlstand jahrzehntelang subventioniert“, sagt der ehemalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer. „Den Preis, der dafür bezahlt werden muss, haben wir verdrängt, indem wir Probleme jahrzehntelang nicht beseitigt, sondern verlagert haben.“ Deshalb sollte der Westen nicht mit erhobenem Zeigefinger auf diese Nationen herabschauen, sondern mit neuen Ideen vorangehen, wie sich Wachstum und Umweltschutz verbinden lassen.  

Trotzdem muss man diese Zahlen kennen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was im Sommer 2018 ein damals 15-jähriges Mädchen aus Schweden dazu bewogen hat, sich mit einem Schild auf die Straße zu setzen und in einen Schulstreik für das Klima zu treten. „Ich will, dass ihr in Panik geratet“, hat Greta Thunberg gesagt und dafür viel Anerkennung, aber auch Kritik einstecken müssen, weil man komplexe Probleme nicht mit Schwarz-Weiß-Denken lösen könne. Aus ihrem Streik, der sich zur  weltumspannenden Bewegung Fridays for Future entwickelte, sprach die Ohnmacht, die nur ein junger Mensch empfinden kann, der mit Erwachsenen an einem Tisch sitzt, die reden und reden, während sich in ihrem Rücken eine Katastrophe zusammenbraut. Greta Thunberg steht stellvertretend für eine Generation, die sich durch ihr Engagement für  Umwelt- und Klimaschutz politisiert hat und die sich von traditionellen politischen und wirtschaftlichen Eliten im Stich gelassen fühlt. Und obwohl viele von ihnen aus privilegierten Milieus stammen, obwohl sie mehr motivieren und weniger anklagen sollten, muss man diesen jungen Menschen wohl zugestehen, dass sie nicht in diplomatischen Formeln sprechen. Man muss sich ja nicht davon anstecken lassen. Trotzdem: Ohne Mut, Entschlossenheit und Solidarität wird es nicht gehen, den Klimawandel aufzuhalten. 

„Ich versuche, aus der Vergangenheit zu lernen, aber ich plane für die Zukunft, indem ich mich allein auf die Gegenwart konzentriere.“ Mit diesem Satz begann Donald Trump sein Buch The Art of the Deal aus dem Jahr 1987. Auf die Klimapolitik bezogen ist dieser Satz eine Katastrophe. Denn das macht die Sache so kompliziert: Dass wir uns eben nicht auf die Gegenwart konzentrieren dürfen, sondern heute schon auf eine Zukunft reagieren müssen, die wir nur aus Grafiken und Simulationen kennen. Dass wir heute schon einschränkende Maßnahmen treffen müssen, die später dazu führen, dass die Katastrophe ausbleibt – und deren Nutzen wir paradoxerweise genau deshalb anzweifeln. Eine Logik, die wir in den Corona-Monaten im Zeitraffer erleben konnten: Wenn wir die Kontakte ab heute beschränken, gibt es vier Wochen später weniger Intensivpatientinnen und -patienten, was nicht heißt, dass man sich nicht hätte beschränken müssen, nur weil sich die Lage am Ende weniger dramatisch entwickelt als befürchtet. 

Eine der ersten Amtshandlungen von Joe Biden als Nachfolger Donald Trumps, der die Klimakrise schlicht leugnete, bestand darin, dem Klimaabkommen von Paris wieder beizutreten. Das ist eine gute Entwicklung, weil auch Europa und China die Abkehr von Kohle, Öl und Gas vorantreiben. Gerade erst schraubte die EU ihr Klimaziel nach oben und will die CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 reduzieren. 

Zu viel oder zu wenig Fortschritt?

Bleibt die Frage: Warum musste erst ein 15-jähriges Mädchen die Weltbühne betreten, damit nach 50 vergeudeten Jahren Schwung in die Sache kommt? Ist Klimapolitik zu teuer oder zu kompliziert? Haben wir zu viel oder zu wenig Fortschritt? Fehlt es uns an Wissen oder sind wir einfach zu bequem, um auf Annehmlichkeiten zu verzichten? 

Im Herbst 2020 errechneten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, dass es in Deutschland finanziell, technisch und ökonomisch durchaus möglich wäre, die vereinbarten Klimaziele einzuhalten. Die Frage sei lediglich, ob es den „politischen Gestaltungswillen“ und die „gesellschaftliche Bereitschaft“ für solche Veränderungen gebe. 

Die Corona-Pandemie zeigt, wie schnell Gesetze auf den Weg gebracht werden können, wenn wir uns unmittelbar bedroht fühlen. Offensichtlich haben Bilder von Eisbergen, die im Meer versinken, nicht die gleiche Wucht wie Bilder von Menschen auf Intensivstationen, die an Beatmungsgeräten hängen. Dieses Virus kann einen nicht in 30 Jahren, sondern am nächsten Wochenende unter die Erde bringen. Diese Pandemie beweist, dass die meisten Menschen bereit sind, Gewohnheiten zu ändern oder aufzugeben, wenn es darum geht, Leben zu schützen. Sie zeigt, dass wir Milliarden zur Verfügung haben, um Kollateralschäden abzufedern, und wie wichtig es ist, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Entscheidungen einzubinden. Man kann ja mal versuchen, sich vorzustellen, wie es einem Klimaforscher wie John Schellnhuber seit Monaten geht, wenn er täglich Virologinnen und Epidemiologen in den Medien sieht, obwohl er seit Jahren vor einer Katastrophe warnt, die um ein Vielfaches tödlicher ist als das Coronavirus. Der Weltkatastrophenbericht des Roten Kreuzes zeigt: Allein in den letzten zehn Jahren waren 1,7 Milliarden Menschen von klimabedingten Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Stürmen und Hitzewellen betroffen, fast eine halbe Million Menschen starben – und das ist erst der Anfang. 

Wir haben in Europa die Chance, vorzumachen, wie sich Ökologie und Wachstum verbinden lassen. China, Indien und der Rest der Welt werden uns, wenn die Rechnung aufgeht, gern imitieren.

Die Logik unserer Zivilisation

„How dare you – wie könnt ihr es wagen?“, klagte Greta Thunberg vor den Vereinten Nationen. „Alle kommenden Generationen haben euch im Blick, und wenn ihr euch dazu entscheidet, uns im Stich zu lassen, dann entscheide ich mich zu sagen: Wir werden euch nie vergeben.“ Viele junge Klimaaktivistinnen und -aktivisten inszenieren einen Kampf der Generationen, in dem die Alten vor allem Täter und die Jungen vor allem Opfer sind. In Wahrheit geht es nicht darum, besser als die anderen zu sein, sondern möglichst viele Menschen zum Mitmachen zu bewegen. Eine Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie besagt sogar, dass ältere Menschen mehr auf Nachhaltigkeit achten als jüngere. Sie gingen zwar seltener demonstrieren, seien aber eher bereit, konkret zu handeln. 

Was uns dringend gelingen muss: die Menschen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zu ermutigen und zu ermächtigen, das Gemeinsame und Unabdingbare des Unterfangens Klimaschutz zu erkennen. Es geht darum, den Blick auf unsere Art zu wirtschaften, aber auch auf unsere Vorstellung von Fortschritt und Glück neu zu justieren, weil die Art und Weise, wie wir die Welt im Moment denken, nichts ist, was nicht verändert oder verbessert werden könnte. Wer aber hat den Mut, uns das zu vermitteln? 

Obwohl während der Corona-Pandemie so viele Industrien, Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe stillstanden, hat der weltweite CO2-Ausstoß gerade mal um sieben Prozent abgenommen. Das beweist, wie umfassend der Wandel sein muss: Es genügt nicht, sich einen Abend lang nicht unter einen Heizstrahler zu setzen. Die „Logik unserer Zivilisation“ – so formuliert es die Politökonomin und Transformationsforscherin Maja Göpel – muss neu gedacht werden. Dafür müssen wir unsere Angst vor Veränderungen loswerden. Gut möglich, dass wir gerade einen Epochenwechsel erleben, wie er alle paar Jahrhunderte die Weltgeschichte in ein Davor und ein Danach teilt: Wie im 16. Jahrhundert die Renaissance den Aufbruch in die Moderne markierte und die Menschen anders denken, lernen, empfinden ließ, könnte es sein, dass die Menschheit im 21. Jahrhundert dabei ist, ihren Kurs grundsätzlich neu auszurichten. Was uns erwartet und wie das geht, weiß niemand. Aber man kann es herausfinden, indem man den ersten Schritt macht und dann: weitergeht. 

Neue Lösungen statt alter Ideen

Wir haben einen steinigen Weg vor uns. Damit ihn möglichst viele Menschen mitgehen, müssen sich möglichst viele gemeint fühlen. Der norwegische Umweltpsychologe Per Espen Stoknes sagt: „Wir wissen aus der Psychotherapie, dass die Bereitschaft zur Veränderung nicht wächst, wenn Beschämung oder Schuldgefühle ausgelöst werden. Im Gegenteil: Menschen beginnen, diese Botschaften zu meiden.“ Statt andere herabzuwürdigen sollte man also lieber vormachen, wie es gehen könnte. Ganz wichtig dabei ist: Die notwendigen Schritte zur Veränderung müssen vorstellbar sein. „Das Erstaunen darüber, dass diese Epoche einmal enden könnte, der Widerstand, den der bloße Gedanke daran auslöst, und die Ratlosigkeit, was danach kommen könnte, zeigen, wie sehr wir uns an diesen Zustand gewöhnt haben, für wie normal wir ihn halten“, heißt es in Göpels Bestseller Unsere Welt neu denken. „Das Problem sind nicht die neuen Ideen. Das Problem ist, wie wir uns von den alten Ideen lösen können“, schrieb der Ökonom John Maynard Keynes. Deshalb könnte die Lösung darin bestehen, dass der technologische Fortschritt, der die Welt erst ausgebeutet hat, uns nun dabei hilft, sie wieder zu heilen. Irgendjemand muss losgehen und anfangen. Das können Menschen sein, aber auch Institutionen, Stiftungen, Vereine, Gemeinden, Konzerne oder Staaten. „Wenn eine Idee Erfolg hat, wird sie leicht noch erfolgreicher“, schreibt der Historiker John Robert McNeill. „Sie wird in soziale und politische Systeme eingebaut, was ihre weitere Verbreitung unterstützt. Sie herrscht dann auch über die Zeiten und Orte hinaus, an denen sie von Vorteil für ihre Anhänger ist.“ Heißt: Wir haben in Europa die Chance, vorzumachen, wie sich Ökologie und Wachstum verbinden lassen. China, Indien und der Rest der Welt werden uns, wenn die Rechnung aufgeht, gern imitieren.  

Statt den Status quo zu sichern, müssen wir den Mut haben, mit vermeintlichen Unabänderlichkeiten zu brechen. Klimaschutz darf kein lästiges Unterfangen sein, dem man alle paar Tage mit schlechtem Gewissen nachgeht, sondern muss das Menschheitsprojekt der nächsten Jahrzehnte werden, in das Herzblut, aber vor allem Geld, Bildung und Wissen fließen. Lösungen liegen auf dem Tisch, jetzt müssen sie verinnerlicht und umgesetzt werden. Und natürlich muss dabei jede und jeder bei sich selbst anfangen, aber vor allem geht es um eine nachhaltige Politik, die subventioniert, was zukunftsfähig ist, und nicht, worauf ein paar privilegierte Menschen nicht verzichten wollen. Doch dieses Mal scheint der Zeitgeist eine Lösung zu forcieren. Heute wird Nachhaltigkeit auch immer mehr von jenen gefordert, denen es nicht um die Natur geht, sagt der Erdsystemforscher Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Die Argumente kommen aus dem Gesundheitswesen, aus der Wirtschaft, aus der Sicherheits- und Migrationspolitik.  

Die Zukunft ist nichts, was vom Himmel fällt. Sie ist in vielen Teilen das Ergebnis unserer Entscheidungen. Wir müssen selbst anfangen auszuprobieren, wie es sich anfühlt, das Leben, den Alltag, unsere Gewohnheiten zu ändern. Und wir müssen anderen davon erzählen: von den Schwierig- und Unwägbarkeiten, die den Weg säumen werden, aber auch von den Glücksmomenten, die sich verlässlich einstellen, wenn man Neues wagt. 

Aus der Stiftung

KLIMASCHUTZSTIFTUNG BADEN­-WÜRTTEMBERG

Losgehen und anfangen: Klimaschutz erfordert mutiges Handeln. Mit der Klimaschutzstiftung Baden­-Württemberg wurde zum 1. Januar 2021 eine Institution geschaffen, die das Land auf dem Weg zur Klimaneutralität begleitet und dabei die Bürgerinnen und Bürger unterstützt, ihre CO2­Emissionen auszugleichen. Mit einem Grund­kapital von rund 50 Millionen Euro ist sie bei der Baden­-Württemberg Stiftung angesiedelt – ein Novum in Deutschland. Mehr Infos unter:

www.bw­stiftung.de/de/klimaschutz