In Leos Jugend gab es Tage, an denen er nicht sagen konnte, wie er sich seine Zukunft ausmalt. Welchen Beruf er zum Beispiel einmal ausüben will. Wo er wohnen wird. Oder ob er eine Familie haben möchte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, in ein paar Monaten noch zu leben. Heute ist Leo, der eigentlich anders heißt, 19 Jahre alt, hat wuschelige schwarze Locken, ein Nasenpiercing und trägt einen weiten Kapuzenpullover. Er wohnt nicht weit entfernt von der Freiburger Altstadt in einer Wohngruppe der Jugendhilfe, in der er täglich mit einer Fachkraft sprechen kann. Noch immer arbeitet er jeden Tag daran, stabil zu bleiben, nicht in alte Muster zu verfallen. Leo wuchs in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg auf, an der deutsch-schweizerischen Grenze. Seine Eltern trennten sich früh. Leo hatte schon als Kind viele Ängste und wollte oft nicht zur Schule gehen. Mit zwölf Jahren begann er, sich selbst zu verletzen, mit 14 entwickelte er eine Magersucht und eine Depression, die so schwerwiegend war, dass er nicht mehr leben wollte.
Experten schlagen Alarm
Leos Geschichte lenkt den Blick auf eine Generation in der Krise. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die mentale Gesundheit junger Menschen in der Altersgruppe von zehn bis 24 Jahren verschlechtert – in allen Weltregionen. So lautete der Befund von 44 internationalen Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen, die im Mai 2025 in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet Alarm schlugen: Jeder und jede siebte Heranwachsende leide an Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Erkrankungen. In Deutschland sind die Zahlen sogar noch höher: Jährlich erkrankt laut der Bundes-Psychotherapeuten-Kammer einer oder eine von fünf Minderjährigen an einer psychischen Störung.
Die Folgen für den weiteren Lebensweg können gravierend sein: niedrigere Bildungsabschlüsse, unsichere Arbeitsverhältnisse, konfliktbehaftete Beziehungen und größere Anfälligkeit für physische Krankheiten. Auch in Baden-Württemberg bestätigt sich dieser Negativtrend. „Bei Jugendlichen haben wir Krankschreibungen und Fallzahlen wie noch nie“, sagt Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm und verantwortlich für eine Kindertagesklinik, eine Kinder- sowie zwei Jugendstationen. Damit einher gingen „fast unzumutbare“ Wartezeiten auf Therapieplätze. Oft müssten sich Kinder und Jugendliche ein Jahr lang gedulden, ehe sie eine Diagnose erhielten.
„Dieses System ist zunehmend dysfunktional“, sagt Fegert. Er spricht von einer Bugwelle, die Psychiatrien vor sich herschieben – und die immer weiter anwächst. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Fegert mit der mentalen Gesundheit von jungen Menschen und wurde dabei schon mehrmals von der Baden-Württemberg Stiftung gefördert. Aktuell arbeitet man etwa in einem Projekt zusammen,das einen familienorientierten Ansatz zur Prävention und Frühintervention bei häuslicher Gewalt entwickeln und erproben soll. In einem weiteren Projekt geht es darum, psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen früher und besser zu erkennen.