Neulich in Bammental, einer Gemeinde im Rhein-Neckar-Kreis. Was der Ort braucht, ist eine weitere Bücherei. Eine für Kinder. Projektträger ist der Verein Kinderreich Rhein-Neckar. Von Beginn an ist klar, dass die Zielgruppe intensiv in die Planung einbezogen werden soll – und zwar nicht in erster Linie die Mädchen und Jungen, die sich sowieso sofort von einer Bibliothek für Kinder angezogen fühlen. Im Fokus stehen Grundschüler aus Familien mit Armutserfahrung. Mädchen und Jungen also, für die der Gang in eine Bücherei keine Selbstverständlichkeit ist. Untersuchungen wie die Studie Kinderarmut? Die Perspektive von Kindern und Jugendlichen des Deutschen Jugendinstituts (2024) zeigen, dass Armut die Welt, in der Kinder aufwachsen, verengt – bis hin zur Erfahrung von Einsamkeit. Weil Familien mit Armutserfahrung häufig gar nicht wissen, was ihnen zusteht. Das trifft auf Leistungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe zu, aber auch auf den Zugang zu sozialen Einrichtungen. Kinder mit Armutserfahrung ziehen sich oft zurück und üben, solidarisch mit ihrer Familie, grundsätzlich Verzicht. So manifestiert sich Chancenungleichheit. Und dagegen will man in Bammental etwas unternehmen.
Immer für’ne Überraschung gut
Schon beim ersten Treffen erlebt das Projektteam eine Überraschung. Es kommen nämlich nicht nur die angesprochenen 7- und 8-Jährigen, sondern auch deren kleine Geschwister im Kita-Alter. Klar, auf die passen die „Größeren“ auf, weil die Eltern nachmittags in der Regel arbeiten. Die Kleinen miteinzubeziehen, bedeutet für das Team mehr Aufwand. Doch statt dafür Sorge zu tragen, dass die Geschwister beim nächsten Mal nicht mehr mitkommen, macht man es in Bammental anders: Die pädagogische Leitung erweitert das Programm, was zu Gewusel führt, vor allem aber zu einer funktionierenden Vielfalt. Sowieso ist Flexibilität gefragt. Häufig stehen Projekte dieser Art unter einem strengen Zeitplan: Bis dann und dann muss dieses und jenes geschafft sein – auch, damit die Fördergelder fließen. Beim Bibliotheksprojekt erhalten die Kinder genügend Zeit, sich in der Gruppe zu finden, Verbindungen zueinander aufzubauen, Selbstbewusstsein zu tanken, Teilhabe zu üben. „Es ist anstrengender. Dauert länger“, sagt die Projektleiterin. „Wenn ich aber möchte, dass die Kinder die Bücherei als ‚ihr Ding‘ erleben, dann geht das nur so.“
Der Ansatz spricht sich herum. Die Gruppe wird immer vielfältiger. Es kommen Kinder, die mehrfach. die Klasse wiederholen mussten oder eine Lese-Rechtschreib-Schwäche vorweisen. Aber auch andere, die gerne und viel lesen. Gemeinsam entwickeln sie Ideen, zeigen Empathie für die Bedürfnisse der anderen, reißen das Projekt an sich. Das Ergebnis: leichte und selbst gestaltete Holztische statt Möbel aus Metall, sodass die Kinder sie so stellen können, wie sie mögen. Selbstbedienung bei der Ausleihe am Bücherei-PC. Freie Abstimmungen darüber, welche neuen Bücher angeschafft werden. Ganz im Sinne von Herbert Grönemeyer und seinem 80er-Jahre-Gassenhauer Kinder an die Macht. Der Song ist stellenweise sehr optimistisch, hat aber ein paar kluge Zeilen zu bieten. Diese hier zum Beispiel: „Gebt den Kindern das Kommando / Sie berechnen nicht, was sie tun.“ Oder: „Statt zu unterdrücken, gibt’s Erdbeereis auf Lebenszeit / Immer für ’ne Überraschung gut.“ Es gibt Erwachsene, die davon Bauchschmerzen bekommen: weniger vom Erdbeereis als vom Kontrollverlust. Für die pädagogische Leiterin des Projekts ist die Abgabe von Macht kein Verlust, sondern ein Gewinn. „Mein Blick auf die Kinder hat sich total geändert. Sie besitzen Entscheidungskompetenzen. Wenn man ihnen ein bisschen Zeit lässt, sind sie unheimlich kreativ. Dabei, wie sie sich eigene Wege erarbeiten, wie sie Sachen umsetzen.“