Feature
Unsere Kinder können Demokratie

Was es braucht, damit Demokratie gelingt? Demokratinnen und Demokraten. Ein Nachwuchsproblem dürfte es eigentlich nicht geben, denn jedes Kind trägt die dafür grundlegenden Werte in sich. Diese müssen nur auch geweckt und durch eigenes Erleben gestärkt werden – in der Familie, in der Kita und in der Schule.

André Boße, Rami Niemi (Illustrationen)

Neulich in Bammental, einer Gemeinde im Rhein-Neckar-Kreis. Was der Ort braucht, ist eine weitere Bücherei. Eine für Kinder. Projektträger ist der Verein Kinderreich Rhein-Neckar. Von Beginn an ist klar, dass die Zielgruppe intensiv in die Planung einbezogen werden soll – und zwar nicht in erster Linie die Mädchen und Jungen, die sich sowieso sofort von einer Bibliothek für Kinder angezogen fühlen. Im Fokus stehen Grundschüler aus Familien mit Armutserfahrung. Mädchen und Jungen also, für die der Gang in eine Bücherei keine Selbstverständlichkeit ist. Untersuchungen wie die Studie Kinderarmut? Die Perspektive von Kindern und Jugendlichen des Deutschen Jugendinstituts (2024) zeigen, dass Armut die Welt, in der Kinder aufwachsen, verengt – bis hin zur Erfahrung von Einsamkeit. Weil Familien mit Armutserfahrung häufig gar nicht wissen, was ihnen zusteht. Das trifft auf Leistungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe zu, aber auch auf den Zugang zu sozialen Einrichtungen. Kinder mit Armutserfahrung ziehen sich oft zurück und üben, solidarisch mit ihrer Familie, grundsätzlich Verzicht. So manifestiert sich Chancenungleichheit. Und dagegen will man in Bammental etwas unternehmen.

Immer für’ne Überraschung gut
Schon beim ersten Treffen erlebt das Projektteam eine Überraschung. Es kommen nämlich nicht nur die angesprochenen 7- und 8-Jährigen, sondern auch deren kleine Geschwister im Kita-Alter. Klar, auf die passen die „Größeren“ auf, weil die Eltern nachmittags in der Regel arbeiten. Die Kleinen miteinzubeziehen, bedeutet für das Team mehr Aufwand. Doch statt dafür Sorge zu tragen, dass die Geschwister beim nächsten Mal nicht mehr mitkommen, macht man es in Bammental anders: Die pädagogische Leitung erweitert das Programm, was zu Gewusel führt, vor allem aber zu einer funktionierenden Vielfalt. Sowieso ist Flexibilität gefragt. Häufig stehen Projekte dieser Art unter einem strengen Zeitplan: Bis dann und dann muss dieses und jenes geschafft sein – auch, damit die Fördergelder fließen. Beim Bibliotheksprojekt erhalten die Kinder genügend Zeit, sich in der Gruppe zu finden, Verbindungen zueinander aufzubauen, Selbstbewusstsein zu tanken, Teilhabe zu üben. „Es ist anstrengender. Dauert länger“, sagt die Projektleiterin. „Wenn ich aber möchte, dass die Kinder die Bücherei als ‚ihr Ding‘ erleben, dann geht das nur so.“

Der Ansatz spricht sich herum. Die Gruppe wird immer vielfältiger. Es kommen Kinder, die mehrfach. die Klasse wiederholen mussten oder eine Lese-Rechtschreib-Schwäche vorweisen. Aber auch andere, die gerne und viel lesen. Gemeinsam entwickeln sie Ideen, zeigen Empathie für die Bedürfnisse der anderen, reißen das Projekt an sich. Das Ergebnis: leichte und selbst gestaltete Holztische statt Möbel aus Metall,  sodass die Kinder sie so stellen können, wie sie mögen. Selbstbedienung bei der Ausleihe am Bücherei-PC. Freie Abstimmungen darüber, welche neuen Bücher angeschafft werden. Ganz im Sinne von Herbert Grönemeyer und seinem 80er-Jahre-Gassenhauer Kinder an die Macht. Der Song ist stellenweise sehr optimistisch, hat aber ein paar kluge Zeilen zu bieten. Diese hier zum Beispiel: „Gebt den Kindern das Kommando / Sie berechnen nicht, was sie tun.“ Oder: „Statt zu unterdrücken, gibt’s Erdbeereis auf Lebenszeit / Immer für ’ne Überraschung gut.“ Es gibt Erwachsene, die davon Bauchschmerzen bekommen: weniger vom Erdbeereis als vom Kontrollverlust. Für die pädagogische Leiterin des Projekts ist die Abgabe von Macht kein Verlust, sondern ein Gewinn. „Mein Blick auf die Kinder hat sich total geändert. Sie besitzen Entscheidungskompetenzen. Wenn man ihnen ein bisschen Zeit lässt, sind sie unheimlich kreativ. Dabei, wie sie sich eigene Wege erarbeiten, wie sie Sachen umsetzen.“

Eine Pflanze, die wachsen will
Gefördert wird das Bibliotheksprojekt von der Baden-Württemberg Stiftung, es ist eingebettet in das Programm Kinder stärken – Familien fördern, das sich an Kinder und Familien richtet, die von Armut betroffen oder armutsgefährdet sind. Das Thema ist akut: Laut dem Gesellschaftsmonitoring Baden-Württemberg 2023 sind knapp 19 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Südwesten armutsgefährdet. Hier setzt das Stiftungsprogramm an, indem es präventiv Armut bekämpft und Teilhabe ermöglicht –wissenschaftlich begleitet.

Die Juristin und Expertin für Sozialrecht Prof. Dr. Anna Lenze und der Sozialwissenschaftler Hermann Kirchmann evaluieren das Programm. Was die beiden bei der Bewertung der insgesamt elf Projekte erkennen: Die grundlegenden demokratischen Ressourcen – teilhaben zu wollen, eigene Rechte einzufordern, Bedürfnisse zu artikulieren, Kompromisse einzugehen – sind in jedem Kind angelegt. Bei Kindern, die auf Dauer keine Teilhabe erleben, veröden diese Ressourcen. „Wie eine Pflanze, die man nicht gießt – und die deshalb nicht blüht“, erklärt Hermann Kirchmann.

Was müssen wir als Gesellschaft tun, damit diese Pflanze erblühen und jedes Kind sein Potenzial entfalten kann? Wie stärken wir die demokratischen Werte, die in jedem jungen Menschen angelegt sind? Lesen Sie das große Feature im Magazin.

Von der Baden-Württemberg Stiftung geförderte Projekte arbeiten daran, die demokratische Substanz zu stärken und Kindern das Gefühl zu vermitteln, wirksam zu sein.