Reportage
1:0 fürs Lesen

Kicken und Lesen, Fußball und Lernen: In einem Mannheimer Schulprojekt üben sich Jungs auf dem Platz und an Texten. 90 Minuten für mehr Sprachverständnis, Bewegung – und eine gute Zukunft.

Isabel Stettin

Schnell dribbeln die Spieler über den Hallenboden, die quietschenden Geräusche der Turnschuhe dringen durch die geöffnete Tür. Kostas, 13, und sein Zwillingsbruder Alex Ntala lassen sich vom Geschehen hinter ihnen nicht beirren. Sie sitzen in einer kleinen Gruppe auf dem Boden des Pausenraums der GBG-Halle im Herzogenried in Mannheim und beugen ihre Köpfe über ein Blatt Papier. „Der VfB Stuttgart ist ein Verein für Bewegungsspiele“, beginnt Alex zu lesen, etwas stockend, aber klar und deutlich. Er trägt ein gelbes Trikot der brasilianischen Nationalmannschaft, sein Blick ist konzentriert. „Der VfB Stuttgart wurde fünfmal deutscher Meister“, macht Kostas weiter. Reihum lesen die vier Schüler der Uhland- Werkrealschule, Satz für Satz wandert der Text im Kreis. Aus der Turnhalle hört man lautes Lachen, Stimmengewirr, manchmal in mehreren Sprachen.

Während die kleine Gruppe die Texte bearbeitet, spielen nebenan zwei Teams gegeneinander Fußball. „Spiel ab!“, ruft ein Junge, sein Mitspieler jongliert den Ball auf seinem Fuß. „Schieß zu mir!“ An diesem Mittwochnachmittag geht es nicht nur um Sport, sondern auch um Sprache, Selbstvertrauen, Integration.

„Ich bleib am Ball“ heißt das Projekt, das von der Baden-Württemberg Stiftung im Rahmen des Programms kicken&lesen gefördert wird. Die Idee ist einfach: Über die Leidenschaft für Fußball soll das Interesse am Lesen geweckt werden. In Deutschland verschlechtert sich die Lesekompetenz der Kinder stetig: 25 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler erreichen nicht den international festgelegten Mindeststandard – das ist jedes vierte Kind (Iglu-Studie 2023). Im Jahr 2001 hatte jedes sechste Kind in der vierten Klasse Probleme mit dem Lesen, 2016 war es jedes fünfte. Zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr nimmt vor allem bei Jungen das Interesse am Lesen rapide ab.

Bei kicken&lesen üben Kinder nicht nur Lesen, sie erlangen soziale Kompetenzen, Teamgeist, Frustrationstoleranz, Durchhaltevermögen. Sie nehmen Rücksicht, feuern sich gegenseitig an. Das Programm richtet sich vor allem an Jungen, es dürfen aber auch Mädchen mitmachen.

Beim Lesen am Ball bleiben
Seit zwei Jahren läuft „Ich bleib am Ball“ an der Uhland-Werkrealschule in Mannheim. 15 Jungen aus der 6. und 7. Klasse nehmen teil an der AG, die vom Interkulturellen Bildungszentrum Mannheim durchgeführt wird; viele von ihnen haben eine Migrationsgeschichte. Auch Kostas und Alex sind noch nicht lange in Deutschland. Sie kamen 2023 aus Griechenland und lernen nun Deutsch. „Ich mochte nicht gern lesen, das war schwer für mich“, sagt Alex. Doch das Üben mit den anderen hat ihn angetrieben, am Ball zu bleiben.

Manche der Sätze sind fordernd, manche der Schüler lesen langsam, manche haben noch Probleme bei der Aussprache einzelner Wörter. Doch keiner lacht, wenn sich jemand verhaspelt oder nicht weiterkommt. „Versteht ihr etwas nicht? Gibt es Wörter, die ihr noch nicht kennt?“, fragt Sophie Wagner. Seit zwei Jahren begleitet die Lehramtsstudentin die AG. „Wenn ich die Schüler beim Lesen betreue, merke ich, dass viele ihre Angst davor verloren haben. Sie wirken nun selbstsicherer. Die Kinder kommen hier aber auch mal zur Ruhe und können beim Lesen durchatmen.“ Wie die kleine Gruppe um die Zwillingsbrüder Alex und Kostas. In eigenen Worten haben sie den gelesenen Text nacherzählt und Fragen dazu beantwortet: „Was fandest du daran interessant? Welche Farben haben die Trikots des VfB?“ Kostas legt seinen ausgefüllten Fragebogen zur Seite, ruft: „Fertig, Frau Wagner!“, dann stürmen er und die anderen auf den Platz.

Die Mannschaft ist bunt zusammengewürfelt, die meisten haben eine Migrationsgeschichte: Schüler aus der Ukraine und Russland, aus Syrien und Albanien, der Türkei und dem Irak sind am Ball. Einige von ihnen sind neu angekommen, sie können noch nicht so gut Deutsch und gehen daher in sogenannte Vorbereitungsklassen.
Ein gutes Team: Mit Konzentration und viel Spaß machen die Jungen Fortschritte beim Lesen – und am Ball. Viele sind ehrgeizig, einige spielen auch im Verein.

Motivierende Vorbilder
Dort hat Nicolas Bischoff das Spiel im Blick. Seit fünf Jahren ist der Sozialarbeiter an der Schule, er betreut das Schülercafé und kennt fast jeden der Jungen. „Manche waren anfangs eher zurückhaltend, andere eher laut“, erzählt er. „Jetzt hören alle einander zu, trauen sich, auch mal Fragen zu stellen. Das ist riesig.“ Viele der Jungen kommen aus Familien, in denen Bücher keine Rolle spielen. Aber hier erleben sie, dass Lesen etwas mit ihnen zu tun hat – mit ihren Interessen, ihren Träumen. „Aus vielen Einzelspielern ist ein großes Team geworden. Sie haben gelernt, Verantwortung zu übernehmen“, sagt Bischoff. „Ich habe riesigen Respekt davor, wie sich die Jungs immer wieder selbst überwinden und zusammenwachsen.“

Merwan Azad atmet nach einer Runde Fußball kurz durch. Er kommt bald in die 7. Klasse, liebt das Kicken und hat im Verein gespielt: „Lesen fand ich früher langweilig.“ Doch die Texte über seine Idole Lionel Messi und Cristiano Ronaldo oder seinen Lieblingsclub Real Madrid motivieren ihn. Im Lauf des Schuljahrs ist er in die Geschichten eingetaucht. Seine Noten haben sich verbessert, statt Vierer stehen in seinem Zeugnis nun immer öfter die Noten Zwei und Drei. „Auch weil es meinen Eltern so wichtig ist, dass ich mehr lerne“, betont Merwan.

Jetzt steht für ihn ein ganz besonderes Ereignis bevor: das kicken&lesen-Camp beim VfB Stuttgart, einem der Programmpartner der Baden- Württemberg Stiftung. Zwei Tage lang trainieren die Jungs an der Fußballschule des Vereins. Für viele der Jungs ist die Teilnahme am Camp der Höhepunkt des Schuljahrs. Es ist die Belohnung für alle, die in den vergangenen Monaten mitgemacht haben. Sie werden in Sichtweite zur MHP-Arena, wo der große VfB seine Heimspiele austrägt, spielen und gegen andere Mannschaften antreten. Merwan hat eine große Hoffnung: „Ich will Undav treffen, mein größtes Vorbild!“, sagt er und meint VfB-Stürmer Deniz Undav. „Wir sind beide in Deutschland geboren, haben aber kurdische Wurzeln.“ Merwan will erfolgreich seinen eigenen Weg gehen, wie Undav. In Mannheim lernen die Jungen nicht nur das Lesen – sie lernen, an sich zu glauben. www.kickenundlesen.de

 

Fußball auf dem Papier, Fußball im Kopf und Fußball auf dem Platz: kicken&lesen weckt übers Fußballspielen die Begeisterung fürs Lesen.