Reportage
Mit Mut ins Wasser

Neckarsulm, Kreis Heilbronn: Chlorgeruch, 30 Grad warmes Wasser, aufgeregtes Kichern. In der kleinen Schwimmhalle der Astrid-Lindgren-Schule beginnt für eine Handvoll Kinder mit Behinderung ein besonderer Moment: ihre Schwimmstunde.

Sylvia Rizvi

Daniel strahlt, als er das Lehrschwimmbecken sieht. „Wann darf ich endlich ins Wasser?“, fragt der Junge mit den brünetten Haaren voller Vorfreude. Für den 8-Jährigen ist das Wasser mehr als nur ein Ort zum Planschen, es ist sein Element. Daniel ist frühkindlicher Autist, hat Schwierigkeiten mit Regeln und Abläufen und braucht viel direkte Zuwendung. Im regulären Schwimmkurs wäre dafür kein Raum. Im Kurs der Schwimmschule Ente, den er seit Januar 2024 besucht, bekommt er die nötige Aufmerksamkeit. „Dieser Kurs ist eine echte Chance für Daniel“, sagt seine Mutter. „Die Betreuerinnen und Betreuer nehmen die Kinder, wie sie sind. Das ist sehr wertvoll.“

Derzeit lernen im Kurs drei Jungen und zwei Mädchen mit Beeinträchtigungen, sich ans Wasser zu gewöhnen. Zudem gibt es einen zweiten Kurs, in dem Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen. Die beeinträchtigten Kinder leben mit Spastiken, Autismus, ADHS, Mehrfachbehinderungen oder dem Down-Syndrom. Die Eltern dürfen sie ab dem Vorschulalter anmelden, meist besuchen die Jungen und Mädchen mehrere Kurse nacheinander. „Die Kinder können so viele Kurse besuchen, wie sie wollen – und so lange, wie sie brauchen“, sagt Michael McQuirt, einer der vier Organisatoren.

Das Team der Schwimmschule Ente leitet insgesamt 21 Kurse, die in der Regel je zehn Wochen dauern – oder eben so lange, wie die Kinder benötigen, um sicher im Wasser zu werden. Zwei davon sind auf Kinder mit Behinderungen zugeschnitten. „Mit diesen Kindern kann man kein starres Programm abwickeln“, erklärt McQuirt. „Die Übungsleiterinnen und Übungsleiter lassen sich mit Geduld und Herzblut auf sie ein.“ Alle Betreuer haben ein erweitertes Führungszeugnis. Einige Eltern fahren bis zu 20 Kilometer, damit ihr Sohn oder ihre Tochter bei diesem besonderen Unterricht dabei sein kann.

In Kursen der Schwimmschule Ente lernen Mädchen und Jungen mit Beeinträchtigungen ab dem Vorschulalter das Schwimmen. Sie werden von geschultem Personal betreut und bekommen die Zeit, die sie brauchen.

Generation an Nichtschwimmern
Nicht schwimmen zu können, zählt zu den größten Unfallgefahren – für alle Kinder. Das kann tödlich enden. Im Jahr 2024 ertranken in der Bundesrepublik laut der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) 14 Kinder unter elf Jahren und weitere 14 junge Menschen im Alter von elf bis 20 Jahren. Am Meer, in Flüssen, Bächen, Seen oder im Schwimmbad, manchmal sogar im Gartenteich, Planschbecken oder im Bach hinter dem Spielplatz. In einem tragischen Fall kam im September 2023 in Konstanz sogar ein Kind beim Schwimmunterricht in der Grundschule ums Leben. Die DLRG schätzt, dass sechs von zehn Kindern am Ende der 4. Klasse keine sicheren Schwimmer sind.

20 Prozent der 6- bis 10-Jährigen können demnach gar nicht schwimmen. Tendenz: steigend. Die Gründe sind vielfältig. Öffentliche Bäder werden immer häufiger wegen zu hoher Kosten, Sanierungsbedarf oder fehlendem Personal geschlossen. An vielen Schulen ist aufgrund der Corona- Pandemie der Schwimmunterricht ausgefallen, viele Kurse wurden nicht nachgeholt, insgesamt finden heute weniger Kurse statt. Eltern, private Anbieter und Vereine springen ein. Doch nicht jede Familie kann das Geld für Privatkurse aufbringen. Nach DRLG-Angaben ist knapp die Hälfte der Kinder aus Familien mit einem monatlichen Nettoeinkommen von weniger als 2.500 Euro Nichtschwimmer – bei einem Haushaltsnettoeinkommen über 4.000 Euro sind es zwölf Prozent.

Andreas Mauer leitet ehrenamtlich Schwimmtrainings für Kinder mit und ohne Behinderungen. Der Rettungsschwimmer und Triathlet ist von Anfang an bei den Kursen der Schwimmschule Ente dabei.

Deshalb fördert die Stiftung Kinderland über das Programm Vorschulkinder lernen Schwimmen Kurse für Kinder mit und ohne Behinderung. In Neckarsulm beteiligt sich zudem die Schwimmente-Stiftung, die den Schwimmschule-Verein trägt, an den Kosten. „Die Gesellschaft hat die Verpflichtung, allen Kindern zu ermöglichen, schwimmen zu lernen“, sagt Steffen Rettstatt, der die Schwimmente-Stiftung mitgegründet hat.

Freude und Fortschritte
In Neckarsulm sind die Kinder nach den Trocken- und Aufwärmübungen inzwischen im Wasser. Unter der Leitung von Andreas Mauer paddeln sie mit lila und gelben Schwimmnudeln umher, Gummibälle wippen auf dem Wasser. Es ist ein kontrolliertes, fröhliches Durcheinander. Und es ist ein Ort, an dem Fortschritte sichtbar werden. Zum Beispiel bei Edin. Der 9-Jährige ist wie Daniel Autist und fühlte sich früher nur im Planschbecken wohl. Heute paddelt er mit anderen Kindern durch das 60 bis 80 Zentimeter tiefe Wasser und hält sich an einer gelben Schwimmnudel fest. Wie alle Kinder möchte Edin später das Seepferdchen machen, berichtet seine Mutter. Das Abzeichen belegt, dass man wichtige Grundlagen des Schwimmens beherrscht. Zudem lerne ihr Sohn im Kurs, andere Kinder wahrzunehmen – und habe auch noch Spaß dabei: „Es ist wie ein Sozialkompetenztraining.“

Eine Schwimmnudel hilft dabei, sich ans Wasser zu gewöhnen. Die Kinder im Kurs möchten später das Seepferdchen machen. Das Abzeichen ist ein wichtiger Start für Kinder.

Auch Enna im himmelblauen Bikini hat hier ihren Platz gefunden. Eine globale Entwicklungsverzögerung macht der 7-Jährigen das Steuern von Bewegungen schwer. Im Wasser geht alles leichter. Sie hält sich an einer Schwimmmatte fest und strampelt kräftig durch den Pool, dass es nur so spritzt. Ihre dunklen Haare hängen ihr in nassen Strähnen ins Gesicht, sie quietscht vor Vergnügen. „Noch mehr“, juchzt sie, die Betreuerin lacht und schiebt sie an den Beinen durchs Wasser. Ennas Vater schätzt neben dem sportlichen Teil auch das soziale Angebot: „Diese Zeit mit anderen Kindern ist für sie Gold wert.“

Nach einer Stunde ist der Unterricht vorbei. Abtrocknen, umziehen, lächelndes Verabschieden. Kursleiter Andreas Mauer ist zufrieden. „Ich mache selbst gern Sport und will diese Begeisterung weitergeben. Die meisten werden früher oder später das Seepferdchen schaffen.“ Und auf dem Weg dahin viel Spaß haben.

Tausende Ehrenamtliche sind im Einsatz, damit möglichst viele Kinder sicher im Wasser werden. In keinem anderen Bundesland lernten 2024 so viele Kinder schwimmen wie in Baden-Württemberg.