Deutsche Handwerkerinnen und Handwerker genießen weltweit einen guten Ruf. Fünf Stipendiatinnen und Stipendiaten berichten, was das deutsche Handwerk im Vergleich mit dem Ausland ausmacht – und wie sich die Arbeitswirklichkeit unterscheidet.

Isabel Stettin
Lesedauer: 5 Minuten

In Frankreich leisten sich die Leute mehr kleinen Luxus

In Frankreich fühlte ich mich wie in einer anderen Zeit. Bei meinem ersten Besuch im Burgund, während der Berufsschule, hatte ich mich in ein kleines Atelier verliebt und wusste: So wie die junge Polsterin will ich arbeiten: das alte Handwerk entstauben, auf Tradition setzen und meinen eigenen Stil entwickeln. Für Schlösser und Gutshäuser, Theater und Cafés oder kleine Boutiquen polsterten wir Sessel und Sofas. Das Spannende ist, dass unsere Handwerkskunst für den Betrachtenden fast immer verborgen ist, verdeckt von Samt und schönen Bezügen. Statt Schaumstoff verwendeten wir ursprüngliche Materialien: Rosshaar oder Palmfaser als Füllung, gegurtet mit Jute und Leinen. Die Federung ist handgeschnürt. Franzosen legen viel Wert auf diese Details. Es ist ein kleiner Luxus, aber erschwinglich und langlebig. Genau das, was gutes Handwerk für mich ausmacht. Als Raumausstatterin lernte ich in Deutschland neben dem Polstern auch Tapezieren und Böden zu verlegen. In Frankreich spezialisiert man sich hingegen stärker und ich konnte ganz meine Passion ausleben. Meine Lehrmeisterin war acht Jahre auf Wanderschaft, in Betrieben in Europa und Australien. Der Austausch im Handwerk und eine gute Ausbildung sind so wichtig, um voneinander zu lernen. Hier muss noch viel getan werden. Für Erwachsene gibt es aber kaum Förderung, darum war das Stipendium eine großartige Chance, meinen Traum zu verwirklichen. Heute arbeite ich als Gesellin für eine Polsterei und bin nebenbei selbstständig tätig. Ich glaube, dass traditionelles Handwerk in Zukunft an Interesse gewinnt. Wenn ich nach jedem Arbeitstag sehe, was ich erschaffen habe, erfüllt mich das.

Paula Catalina Benöhr, 34, ist ausgebildete Raumausstatterin und Polsterin. In Frankreich hat sie von September 2019 bis Juli 2020 traditionelle Arbeitsweisen kennengelernt.

 

 

Das Schneiderhandwerk erfährt auch in England wenig Wertschätzung

Wenn das Publikum applaudiert, bin ich glücklich. Ich habe meine Ausbildung zur Schneiderin am Theaterhaus in Stuttgart gemacht. Wie sich die Körper der Tänzerinnen und Tänzer im Lauf einer Spielzeit verändern, fasziniert mich. Die Stoffe müssen flexibel sein, die Kostüme belastbar und schnell anpassbar. Ganz anders war meine Arbeit für einen Designer in London. In der Haute Couture ist Perfektionismus angesagt. Jedes kleinste Detail zählt, jede Naht muss auf den Millimeter passen. Was ich schätze: dass dort so viel auf Handarbeit gesetzt wird. Vorher hätte ich mir vieles nicht zugetraut. In London entwarf ich sogar eigene Schnitte. Ich wählte Stoffe aus, nähte mit feiner Seide, begleitete Castings, etwa für die Fashion Week. In der Haute Couture geht es oft nur um einen Moment, ein Foto, das nach fünf Sekunden vergessen ist. Das sehe ich kritisch. Mir ist es wichtig, mit nachhaltigen Materialien zu arbeiten. Lieber zeitlose Mode statt zehn Kollektionen im Jahr. Mode ist Wegwerfware. Shirts gibt es für fünf Euro. Das Schneiderhandwerk erfährt darum kaum mehr Wertschätzung. Meine Kollegen in London stammten aus Hongkong oder Dänemark. In kleinen Ateliers im ganzen Gebäude arbeiteten Handwerker aus aller Welt. Die ganze Stadt ist sehr divers, frei. Doch der Brexit war spürbar. Viele junge Menschen haben es schwer, nun ein Visum und eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Alle hier arbeiten wahnsinnig viel, um über die Runden zu kommen. Das Leben ist unglaublich teuer, für ein kleines Zimmer zahlte ich etwa 1.000 Euro – ohne das Stipendium wäre das für mich unbezahlbar gewesen. Es war aufregend, in diese andere Welt zu blicken. Doch mein Herz zieht es zurück ans Theater.

Anne Sorvat, 28, ist Damenmaßschneiderin. In England tauchte sie von November 2022 bis März 2023 in die Welt der High Fashion ein – Mode für den roten Teppich.

Deutsche Unternehmen, ihre Produkte und Maschinen werden in Indien sehr geschätzt

Meine Kollegen in Baden-Baden sagten mir manchmal: „Jetzt ist Feierabend.“ In Indien habe ich oft sehr lange gearbeitet, ohne viel Aufmerksamkeit von meinen Chefs zu bekommen. Dort würde niemand darauf achten, dass ich genügend Pausen mache und meine Arbeitszeiten einhalte. In Deutschland musste ich nur acht Stunden am Tag arbeiten. Es gab zusätzliche Leistungen für Überstunden. Hier galt ich als sehr fleißig. Die Atmosphäre war viel entspannter, jeder war freundlich und offen, unabhängig von seiner Position im Unternehmen. Auch wenn es Sprachbarrieren gab, konnten wir uns trotzdem verstehen. Ich habe eine Leidenschaft für Technik und Robotik, deshalb wollte ich nach Deutschland kommen. In Indien werden deutsche Produkte und Maschinen sehr geschätzt, und ich wollte von den Besten lernen. Ich wusste aber auch, dass die Anforderungen in Deutschland hoch sind und viel Wert auf Sicherheit und Präzision gelegt wird. Jeder Prozessschritt wird dokumentiert, es gibt viele Kontrollen. Trotz der Herausforderungen bin ich stolz darauf, dass ich als erster Inder ein Stipendium für junge Fachkräfte der Baden-Württemberg Stiftung erhalten habe. Mein Chef in Deutschland hat sogar sein Interesse bekundet, mich länger zu beschäftigen. Obwohl ich all die Möglichkeiten und Erfahrungen, die ich in Deutschland sammeln konnte, sehr schätze: Mein indisches Erbe, meine Heimat werde ich immer im Herzen tragen.

Ajay Varghese Mavely, 25, Mechatroniker aus Indien, schätzt den Austausch auf Augenhöhe in Deutschland, die gegenseitige Wertschätzung unter Kollegen. Er arbeitete von Januar bis März 2023 in einer Firma für Verpackungsdruck in Baden-Baden.

Ohne Improvisation geht in Uganda nichts

 Nie werde ich den kleinen Jungen vergessen, der beide Unterschenkel verlor, weil es in der Hütte seiner Familie gebrannt hatte. Wenig später konnte er mit seinen neuen Prothesen wieder herumtoben. Ihn so glücklich zu sehen, hat mich berührt. Ich hatte die Hilfsorganisation „ProUganda – Prothesen für ein neues Leben“ gewählt, da mir wichtig war, dass die Arbeit deutschen Standards entspricht. Die Werkstatt in Kijunga, nahe der Hauptstadt Kampala, liegt auf einem Hügel. Die Ausstattung war modern, der Leiter ein Deutscher. Jeder setzt dort seine Stärken ein. Ohne Improvisation geht nichts. Einer meiner liebsten Kollegen hatte keinen Schulabschluss, fand aber für alles eine Lösung, etwa wenn Material fehlte. Aus deutschen Sanitätshäusern erhielten wir Bauteile, Gelenke, Adapter. Ich war mit unseren Patientinnen und Patienten in einem Haus untergebracht. Viele warten jahrelang auf medizinische Versorgung, hatten zum Teil schmerzende Stümpfe. 80 Prozent der Amputierten in Uganda sind Opfer von Verkehrsunfällen. Das hat mich schockiert. Tatsächlich war die erste Beobachtung, die bei mir haften blieb: das Chaos auf den Straßen. Vom ersten Tag tauchte ich in eine andere Welt ein – und ließ mich komplett darauf ein. In Uganda war ich viel freier, selbstständiger, konnte mehr ausprobieren und die volle Verantwortung tragen. Das hat mich bestärkt, meinen Meister zu machen. Ich bin mit anderen Werten zurückgekehrt. Gemessen an den dortigen Schicksalen kommen mir in Deutschland viele Probleme klein vor.

Christoph Anselm, 43, ist Orthopädie-Techniker aus Karlsruhe. Von September 2019 bis März 2020 stellte er bei der Hilfsorganisation „ProUganda“ Prothesen für bedürftige Menschen in dem ostafrikanischen Land her.

In Japan vergehen Jahre, bis ein Schreiner ein Möbelstück fertigt

Die Zeit in Japan erinnert mich an ein Leben im Kloster, mit festem Rhythmus. Wir Schüler schlafen über der Werkstatt, in einer kleinen Küstenstadt bei Nagoya. Den ersten Monat schärfte ich nur die Klingen des Hobeleisens am Wetzstein, Tag für Tag. Eine Übung in Geduld. Später fertigte ich Essstäbchen und Kisten. Bis ein Schreiner eigene Möbelstücke gestaltet, vergehen in Japan Jahre. Hier gelten Handwerker eher als Künstler. Ikigai, das ist der Grund, am Morgen aufzustehen: Diese Lebensphilosophie bedeutet, dass jeder genau das tun sollte, was ihn erfüllt. So arbeite ich in Japan. Mein Lehrmeister, Mitte 70, ist mein Vorbild. Holz mit den Händen zu verstehen liegt mir mehr, als im Hörsaal darüber zu diskutieren. Zuvor arbeitete ich als Architekt, doch ich quälte mich oft ins Büro. Die Entscheidung für die Schreinerlehre war nicht leicht, es war finanziell erst mal knapp. Ich verdiente als Architekturfotograf noch etwas dazu. Meine Eltern leben auf Zypern, beide sind Professoren. Für sie war es zunächst ein Schock. Handwerker wird dort nur, wer keine andere Wahl hat. Eine Entwicklung, die ich so auch in Deutschland wahrnehme. Um mehr Verständnis für Handwerksberufe zu erlangen, habe ich für eine Fotoausstellung in Zypern und Deutschland Handwerkskollegen interviewt und porträtiert: Metallarbeiter, Töpfer,  Orgelbauer. Mich fasziniert diese Vielfalt. In Japan ist es das Streben nach Perfektion, das mich inspiriert, in Deutschland der starke Zusammenhalt unter uns Handwerkern, die Qualität der Ausbildung. In Zypern kann ich als Selbstständiger viel freier gestalten. Heute liebe ich meine Arbeit. Und meine Eltern sind mittlerweile froh, wenn ich für sie Möbel fertige oder repariere.

Georgios Paparoditis, 32, hat als Schreiner in drei Ländern gearbeitet. Seine Weiterbildung in Japan ist zweigeteilt: von September bis Dezember 2022 und von April bis Juli 2023.

 

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Aus der Stiftung – Bildung

Aus vier Linien setzt sich das Baden-Württemberg-STIPENDIUM zusammen:

(1) Stipendium für Studierende,

(2) Walter-Hallstein-Programm für die Vernetzung von Städten und Gemeinden,

(3) Stipendium für Filmproduktion und

(4) Stipendium für Berufstätige.

Knapp 111 Millionen Euro hat die Baden-Württemberg Stiftung bis 2020/21 für das Baden- Württemberg-STIPENDIUM aufgewendet.

Mehr Infos unter: www.bw-stipendium.de